Verrückt bleiben
würde ihr gern noch einmal die Hand schütteln. Sie überreichte mir – nach Entgegennahme der Gebühr von 30 DDR-Mark – eine neue Geburtsurkunde und einen neuen Personalausweis, in dem der neue Vorname stand: Else. Die Sabine war, zum Entsetzen meiner Eltern, für immer ausgelöscht.
»Nenn mich nicht Lulamae«, sagt Holly Golightly zu ihrem Ehemann Doc in »Frühstück bei Tiffany«, »ich bin schon lange nicht mehr Lulamae.« Ich war nicht mehr Sabine, ich war nun Else. Der Rahmen für meine eigene Unangepasstheit war gesetzt. Es war nun einfacher, sich loszulösen vom vorgegebenen Weg.
Als ich mich damals Else nannte, gaben sich meine Freunde auch alle neue Namen. Aus Thomas wurde Dietrich, aus Simone wurde Martha, aus Moni wurde Paula. Die meisten haben die neuen Namen inzwischen wieder abgelegt, nur ich nicht.
Mögen Sie Ihren Namen nicht? Finden Sie, er bildet Sie nicht richtig ab? Das ist fatal. Geben Sie sich einen neuen Namen, es muss ja nicht gleich offiziell gemacht werden. Sie müssen kein Künstler sein, um sich einen Künstlernamen auszusuchen. Nomen est Omen. Der Name ist Programm.
Kipphardts Romanfigur, der schizophrene Dichter März, wurde zum ersten Mal in die geschlossene Anstalt eingewiesen, als man ihn schlafend auf der Damentoilette des Innenministeriums auffand. Er gab an, er sei gekommen, um seinen Namen zu ändern, sein Vorleben auszulöschen und ein neues Leben zu eröffnen, da ihm das alte nicht gefalle. Da ist er wieder, der schmale Grat. Was ich tat, ging gerade noch so als normal durch. Was März tat, katapultierte ihn aus der Gesellschaft.
Auch wenn ich hier jeden Beweis schuldig bleiben muss: Ich bin fest davon überzeugt, dass ich als Sabine ein anderes, ein unwesentlicheres Leben geführt hätte. Sabine Knoll, Bibliothekarin aus Eilenburg. Es hätte auch ganz anders kommen können. Wäre der Gedichtband, der in meine jugendlichen Hände fiel, von Mascha Kaléko oder Ingeborg Bachmann gewesen, dann hätte ich mich vielleicht Mascha oder Ingeborg genannt. Man kann nicht sagen, wer ich heute wäre, wenn ich ein Mascha- oder Ingeborg-Leben geführt hätte. Mein Leben als Else, das nun ins 27. Jahr geht (nachdem ich vorher 20 Jahre Sabine war), gefällt mir. Eine weitere Namensänderung ist vorerst nicht nötig.
3. Avanti Dilettanti!
»Ich habe keine Ahnung, was ich da tue. Aber Inkompetenz hat mich auch noch nie von etwas abgehalten.«
Woody Allen
»Du, Fred, ich hab eine prima Idee«, sagt Holly Golightly zu Paul-den-sie-Fred-nennt in »Frühstück bei Tiffany«. »Wir tun heut mal alles, was wir noch nie gemacht haben.« Fred fängt an. Er trinkt Sekt vorm Frühstück, das hat er noch nie gemacht. Dann ist Holly dran. Sie war noch nie vormittags in Manhattan spazieren. Schließlich soll Fred etwas klauen. Die Szene, in der Holly und Fred mit Diebstahlvorsatz im Geschäft rumschlendern, von Mancini mit detektivisch tastender Schneebesen-Musik unterlegt, immer im Blickfeld des stiernackigen Sicherheitsmanns, ist berühmt, weil sie einen Nerv trifft. Erwachsene werden zu Kindern. Holly nimmt erst eine Plastikpfeife, dann ein Nudelholz. Sie setzt einen Lampenschirm auf den Kopf, stülpt ihren Hut über ein rundes Goldfischglas, bis letztlich beide sich für Masken entscheiden, sie für eine Katzenmaske, er für eine Hundemaske. Sie setzen die Masken gleichzeitig auf und rennen aus dem Laden, laut lachend, Hand in Hand, total auffällig. Sie bellen sogar einen Polizisten an. Wann macht man das schon mal?
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte Sie nicht zum Diebstahl auffordern. Fangen Sie klein an. Überqueren Sie die Straße morgen mal anderswo, nicht an der Stelle, wo sie es immer tun. Nehmen Sie eine Karate-Stunde, sprechen Sie einen Tag lang in Reimen, treten Sie einem Schachclub bei, machen Sie einen Purzelbaum im Stadtpark, kaufen Sie sich eine Burka und testen Sie sie im Selbstversuch. Geben Sie sich als Katholik aus, und gehen Sie zur Beichte. Schneiden Sie sich eine Glatze, einfach so. Nehmen Sie den Hut ab, klappen Sie den Schädel auf und halten Sie Ihr blankes Hirn in die Sonne!
Anfang der 1990er Jahre beginnt Quentin Tarantino, ein Videothekar und Legastheniker aus Knoxville, Tennessee, seine beispiellose Regiekarriere mit einer Lüge. Er behauptet, er habe in Jean-Luc Godards Verfilmung von »King Lear« mitgespielt. Er macht sich interessant, hofft, dass niemand den Faktencheck macht – und behält recht.
Viele Karrieren beginnen mit der Vortäuschung
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