Verrückte Lust.
und Miller verliebte sich auf der Stelle in sie. Er war gebannt von ihrem unablässigen Redefluß, von ihren komplizierten und dunklen Geschichten, in denen es um Liebesaffären mit anderen Männern ging; in Verrückte Lust beschreibt er sie als »eine regelrechte Verstellungskünstlerin«. June war umgeben von Chaos, und Miller ging darin auf. Später schrieb er in Wendekreis des Steinbocks:
Als ich sie kennenlernte, dachte ich, ich bekäme das Leben zu fassen… Statt dessen entglitt mir das Leben ganz und gar. Ich griff nach etwas, das mir Halt geben sollte – und fand nichts. Doch indem ich die Hand ausstreckte, in meinem Versuch, Halt zu finden, mich festzuhalten, fand ich, im Stich gelassen, wie ich war, doch etwas, das ich gar nicht gesucht hatte: mich selbst.
Noch wichtiger war, daß er entdeckte, was er wollte, nämlich »nicht leben – wenn man das, was andere tun, leben nennen soll –, sondern mich ausdrücken«. Denn June bestand kategorisch darauf, daß er seine Stellung bei der Western Union (und außerdem Frau und Kind) aufgeben und nur noch schreiben sollte. Wenige Monate nach ihrer Heirat im Juni
1924 begann er sein Leben als Schriftsteller. June ernährte sie durch verschiedene Jobs als Bedienung im Greenwich Village; zusätzlich brachte sie immer öfter Geld heim, das sie durch komplizierte Machenschaften gewann, in die sie ihre zahlreichen Verehrer verstrickte. Sie nannte das »Gold schürfen«, in Wirklichkeit scheint es sich aber um eine vornehmere Art von Prostitution gehandelt zu haben.
Miller sagte später, er sei in die Vorstellung, Schriftsteller zu werden, so verliebt gewesen, daß er nicht habe schreiben können. Mit ganz untypischer Bescheidenheit machte er einen Anfang, indem er versuchte, Beiträge in Zeitschriften unterzubringen. Er schrieb eine Reihe von kleinen Skizzen, Betrachtungen über Themen wie das Marinegelände in Brooklyn oder berühmte Ringkämpfer, die er an alle möglichen großen Zeitschriften schickte und die fast immer abgelehnt wurden. June und er brüteten den Plan aus, diese Skizzen auf farbigen Karton drucken zu lassen und damit hausieren zu gehen. Bald darauf verwendete June die »Mezzotintos«, wie sie diese Blätter nannten, bei ihren Spielchen: Ihre Bewunderer kauften ganze Serien von Prosagedichten als Gegenleistung für Junes Gesellschaft – oder, was wahrscheinlicher ist, dafür, daß sie mit ihnen ins Bett ging. Es gelang ihr, eines davon in der Zeitschrift Pearson's unterzubringen, doch es erschien nicht unter Henrys Namen, sondern unter ihrem. Seine Arbeiten wurden zu einem Zahlungsmittel in Junes sexuellen Beziehungen, und das wirkte sich, wie man sich leicht vorstellen kann, nicht sehr vorteilhaft auf seine schriftstellerische Entwicklung aus. Seine Geschichten waren flach, schwunglos, detailüberladen und überdies in einer barocken Sprache geschrieben.
Millers zweiter Roman, den er 1928 schrieb, war ein Ergebnis solch bizarrer Umstände. June versuchte, einen reichen älteren Mann zu umgarnen, den sie nur »Pop« nannte, gab Henrys Arbeiten als ihre eigenen aus und wandte sich an Pop mit der Bitte um finanzielle Unterstützung, damit sie einen Roman schreiben könne. Er erklärte sich bereit, ihr ein wöchentliches Stipendium zu zahlen, wenn sie ihm jede Woche ein paar Seiten zeigte – Seiten, die ihr Mann geschrieben hatte. In dieser Zwangslage schrieb Miller Moloch, or This Gentile World, ein autobiographisches Porträt von Dion Moloch, einem Mann, der bei Western Union arbeitet und mit einer spröden, ständig nörgelnden Frau verheiratet ist.
Ein anderes »Arrangement« hatte in dieser Zeit jedoch noch weit größere Auswirkungen auf seine Arbeit. Miller erholte sich damals von einem völligen Zusammenbruch, den er als Folge von Junes Affäre mit Jean Kronski erlitten hatte. 1927 fuhren die beiden Frauen nach Paris, und in Junes Abwesenheit begann Henry die Ereignisse zu schildern, die zu seinem Zusammenbruch geführt hatten. Er sammelte damit Material, das später in Verrückte Lust sowie in Wendekreis des Steinbocks und Sexus, Plexus und Nexus einfloß. Verrückte Lust ist sein erster Versuch, jene quälenden Erfahrungen in ein Kunstwerk zu verwandeln, und das macht dieses Buch zu einem faszinierenden Dokument.
Die Geschichte, die er zu erzählen hatte, war fast ein Alptraum. Während Henry in dem Apartment in Brooklyn Heights versuchte zu schreiben, arbeitete June als Kellnerin und Bedienung in Greenwich Village. Sie
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