Verschieden - ein Mira-Valensky-Krimi
weit ist … Ich atme durch, öffne vorsichtig die Tür. Ein langer Vorzimmergang, dominiert von einem riesigen Barockspiegel. Und im Spiegel sehe ich, dass die beiden in einem anderen Raum stehen, es könnte das Esszimmer sein. Er hat die Arme in den Türrahmen zum Vorzimmer gestemmt, er ist einen guten Kopf größer als Gerda. Eine Holzstatue liegt am Boden. Hat er versucht, sie damit zu schlagen? Gerda steht vor ihm, funkelt ihn an und wirkt jedenfalls unverletzt.
»Lass mich durch!«
»Schlag mich, wenn du durchwillst, dann schlag mich!«
»Hör auf damit!«
»Du kommst hier nicht raus. Nie mehr, ich war lange genug blöd.«
Ich gehe zurück, durch den Gang, durch die Tür, läute lang.
»Sie läutet schon wieder«, schreit Gerda, jetzt an der Grenze zum Weinen. »Lass mich!«
»Sie? Das ist keine Sie, da bin ich mir sicher.«
»Bin ich doch«, sage ich zum Rücken des Herrn Doktor. Er nimmt die Hände aus dem Türstock, dreht sich erschrocken um, für einen Moment glaube ich, er will auf mich losgehen, ich ducke mich.
»Mira Valensky vom ›Magazin‹«, sage ich. »Ich komme, um meine Fotografin abzuholen.«
Gerda geht in die Knie und beginnt zu weinen. Ihr Mann drängt mich zur Seite, mit großen Schritten verschwindet er in den Hausflur, die Tür fällt zu. Ein Durchschnittstyp, braune Haare mit etwas Grau, Brille mit dünnem Metallrahmen, kurzärmliges blaues Hemd, nicht dick, nicht dünn, so einer, dem man als Arzt wohl vertraut. Dann bücke ich mich zu Gerda.
»Hat er dich …«
Sie schüttelt nur den Kopf und weint weiter. »Er wollte mich nicht gehen lassen. Ich war auf dem Weg zur Tür, hab gesagt, ich habe genug von seinen Anschuldigungen, ich muss gehen, da hat er sich in den Weg gestellt und mich zurückgedrängt ins Esszimmer und …« – sie flüstert es – »ich hatte Angst, dass er es tut. Und … ich war so wütend, beinahe hätte ich ihn angegriffen. Kannst du dir das vorstellen?« Sie heult auf. »Dann hätte er … Dass es so weit kommen kann.«
Ich versuche sie hochzuziehen, stütze sie, sie setzt sich auf einen der hellen Designerstühle am großen Esstisch. Unter anderen Umständen hätte ich mir die Wohnung gern näher angesehen. Viel Geschmack, allerdings auch nicht gerade billig.
»War das das erste Mal?«
»Dass er mich nicht rauslassen will?« Gerda sucht nach einem Taschentuch, findet eines in ihrer Jeans, schnäuzt sich. »Davon geredet hat er schon oft, aber es getan … bisher noch nicht. Ich hatte richtig Angst vor ihm, er hat mich hier hereingestoßen, ich bin gestolpert …«
»Hat er dich schon einmal angegriffen?«
Gerda schüttelt langsam den Kopf. »Das … ist auch nicht seine Art, auch wenn du es nicht glaubst, er ist sonst eher ein ruhiger Typ. Aber wenn er verbal so ausgezuckt ist in den letzten Monaten, hab ich mich immer wieder gefragt: Wie weit wird er gehen? Wie werde ich reagieren? Er kommt aus ganz kleinen Verhältnissen, hat daheim eine Menge Streit erlebt. Sein Vater war bei der Wiener Müllabfuhr, seine Mutter hat Heimarbeiten gemacht. Ich glaube, ihr Mann hat sie nicht arbeiten gehen lassen. Er hat keinen Kontakt mehr zu ihnen.« Gerda steht auf, seufzt, ich folge ihr ins Vorzimmer. Sie steht vor dem prachtvollen Barockspiegel und begutachtet ihr Gesicht. »Helmut hat immer gesagt, dass er über den Mundl und die Serie ›Ein echter Wiener geht nicht unter‹ nicht lachen kann, das hat es live bei ihnen daheim gegeben, und dann sind solche Sprüche und Aktionen nicht mehr so witzig.« Sie öffnet eine Schublade – roter Designerschrank, Puderdose – und betupft sich die rote Nase.
»Er hat sich also hinaufgearbeitet«, sage ich.
»Ja, er war immer tüchtig. Und klug. Und strebsam. Und er hat dabei soziales Engagement, das ist noch immer so. Meine Schwester – sie ist Psychologin – meint aber, es sei schwer, sich aus einem gewalttätigen Elternhaus ganz zu lösen. Sie ist nicht sicher, ob er nicht doch einmal zuschlägt, vor allem wenn ich ihn provoziere. Oder wenn er mich so provoziert, dass ich ihm wirklich einmal eine reinknalle.«
Auf der Fahrt zur Sportwissenschaftlerin reden wir wenig. Ich erzähle Gerda von den Monaten, die ich letztes Jahr im Weinviertel verbracht habe, weil es in meine Wohnung geregnet hatte. Sie kann sich an den Fall des beim Joggen erschossenen Winzers erinnern.
Nur einmal, ganz unvermittelt, sagt sie: »Wir haben eine Gästewohnung, ich werde in die Gästewohnung ziehen. Sie hat einen eigenen
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