Verschollen im Taunus
davon auf Lager, mit denen er ungläubig lauschende Besucher von auswärts beeindrucken konnte. Wer mehr über ihn wissen möchte, kann sich ja im Internet per Suchmaschine weitere Informationen herunterladen. Wir wollen ihm an dieser Stelle auch kein Denkmal setzen, dafür ist der Nackte Jörg selbst im toleranten Frankfurt viel zu umstritten, aber, soviel sei verraten, juristisch darf der das, das Nackisch-durch-die-Gegend-Laufen.
Um Kindern ein Vorbild zu sein, wartete er an der Ampel brav auf Grün, ehe er seinen morgendlichen Spaziergang durch den alten Kern Sachsenhausens fortsetzte. Bis zur Wallstraße, durch die der Nackte Jörg seine Schritte zu lenken gedachte, war es nur noch gut eine Minute. Weitere dreißig Sekunden, dann würde er das Hotel King passieren. Trotz der frühen Stunde schwitzte er. Das Thermometer zeigte bereits achtundzwanzig Grad an. Er war dick geworden, die letzten Jahre. Die Aldi-Plastiktüte, ohne die er nur selten seine Wohnung in der Mailänder Straße verließ, baumelte an seiner rechten Seite. Modisch paßte sie zu seinen Plastiksandalen. „Guten Morgen“, grüßte er freundlich den portugiesischen Besitzer des Gemüseladens, der gerade seine Ware verkaufsfördernd arrangierte. Als sei Portugal eine Nudistenhochburg erwiderte dieser den Gruß. Sachsenhausen – man kennt sich halt.
Herr Schweitzer, Schmidt-Schmitt, Michailovitsch, Wladimir und der indisponierte Sergej begegneten sich vor dem Aufzug. Es war ein Zusammentreffen der besonderen Art. Drei vom Apfelwein gar arg gebeutelte Russen, einer davon, der Boß, obendrein in Rage wegen einer gegen ihn persönlich gerichteten kriminellen Handlung in Grosny, ein bekiffter Privatschnüffler mit zerzauster Haarpracht und ein ebenfalls unter Drogeneinfluß stehender Oberkommissar aus Frankfurt.
Als erster fand Herr Schweitzer seine Sprache wieder: „Oh, ihr seid’s. Guten Morgen alle miteinander.“ Dann fiel sein Blick auf den vor sich hin delirierenden Sergej, dessen Gesichtsfarbe zwischen bläßlich-weiß und einem hellen Giftgrün changierte. „Was ist denn mit dem los? Hat der gestern abend Handkäs mit Musik gegessen?“
Allein diese scharfsinnige Frage zeugte davon, daß der Detektiv trotz des außerplanmäßigen Morgenjoints seine sieben Sinne noch beisammen hatte. Denn außer dem Apfelwein kam für einen derartigen desaströsen Zustand nur besagter Handkäs in Frage. Schon seit Generationen amüsierten sich Sachsenhäuser über diese beiden kulinarischen Stolpersteine für Touristen. An sich hört sich beides ja harmlos an, aber wehe, man kostet davon. Die Zahl derer, die daran bereits erkrankten, ist Legion. Als Training und Vorbereitung wird allgemein empfohlen, sich direkt durch chinesische Garküchen im Herkunftsland zu arbeiten. Nur wer ohne Nebenwirkungen gegrillte Affen und Heuschrecken sowie gekochte Entenfüße süß-sauer verträgt, sollte sich an die Sachsenhäuser Küche heranwagen. Ohne Garantie, natürlich.
„Nein“, zischte Alexander Michailovitsch, der gar nicht wußte, was mit Handkäs mit Musik gemeint war. „Scheiß Apfelwein. Ihr habt doch hier alle einen Schuß. Oh Scheiße …“ entfuhr es ihm noch, dann stürzte er mal wieder zur Toilette.
Der Oberkommissar, der auch nicht recht wußte, was hier vor sich ging, sah fragend zu Herrn Schweitzer. „Was haben die denn?“
„Wenn ich das bloß wüßte. Keine Ahnung, ehrlich gestanden. Vielleicht doch Apfelwein …“
Wladimir, dem es augenscheinlich noch am besten ging, schob sich an ihnen vorbei und marschierte zum Tresen. „We go. Airport. Taxi.“
In diesem Augenblick kam eine ältere Dame mit kurzen Beinen, einem Pagenschnitt und dem für diesen Berufsstand typischen schwarzen Geldbeutel herein und verkündete: „Morsche. Taxi.“
Der Portier deutete sofort auf Wladimir. „Gleich. Das sind die Herrschaften. Drei Leute. Geht zum Flughafen. Das Gepäck steht dort.“
Die Dame schnappte sich zwei schwere Koffer, raffte kurz die Schultern und trug sie locker-leicht nach draußen, als bestünde der Inhalt aus Bettfedern.
Wladimir hatte die Hotelrechnung beglichen und nahm die beiden übriggebliebenen dunkelblauen Reisetaschen. Sergej taumelte hinterher.
Herr Schweitzer und Schmidt-Schmitt standen etwas verloren im Foyer und sahen sich ratlos an.
Alexander Michailovitsch kam von der Toilette zurück. Seine Miene war nicht mehr ganz so düster wie zuvor. Offensichtlich glaubte er, das Gröbste hinter sich zu haben. „Ah, Herr
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