Verschwiegene Schuld
Frankreichs und Kanadas begangen wurden. Zweitens, weil er kaum etwas über diese Verbrechen wußte. Drittens, weil die Opfer durchweg ignoriert wurden und nie so etwas wie Mitgefühl oder Entschädigung erhalten haben. Viertens, weil das intellektuelle Establishment, die Universitäten und die Presse es nicht geschafft haben, sich mit den Folgerungen aus diesen Ereignissen ernsthaft auseinanderzusetzen.
Natürlich begingen die geschlagenen Mittelmächte des Ersten und Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs viele horrende Verbrechen. Einige dieser Verbrechen wurden gerichtlich geahndet: 1921/22 vor dem Leipziger Tribunal, 1945/46 in den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozessen (dazu in zwölf weiteren Nürnberger Prozessen nach Kontrollratsgesetz Nr. 10) sowie 1947 vor dem Tokioter Tribunal. Zehntausende Kriegsverbrecher wurden abgeurteilt und mehrere tausend hingerichtet. Gerechtigkeit verlangt jedoch Achtung vor dem Grundsatz der Unschuldsannahme der Angeklagten und die strengste Beachtung der Garantie eines ordentlichen Gerichtsverfahrens bei der Entscheidung über die individuelle Schuld. Niemand sollte nach dem Grundsatz »mitgefangen, mitgehangen« einer willkürlichen und diskriminierenden Behandlung unterzogen werden. Die individuelle Verantwortlichkeit muß stets auf der Grundlage glaubwürdiger Beweise nachgewiesen werden, und die Taten einzelner müssen in einem angemessenen historisch-politischen Zusammenhang beurteilt werden – nicht im Lichte nachfolgender Ereignisse und/oder Erkenntnisse, die dem Angeklagten nicht zugeschrieben oder angelastet werden können. Der Begriff der Kollektivschuld ist unvereinbar mit der Menschenwürde und einer ordentlichen Rechtsprechung.
Doch gerade der Begriff der Kollektivschuld ist es, der bisher die Herangehensweise von Historikern und Journalisten an die von Bacque aufgeworfenen Fragen geprägt und beherrscht hat. Weil die Deutschen kollektiv als schuldig betrachtet werden, haben sie irgendwie keine Rechte mehr. Nur einige wenige Stimmen haben sich erhoben, um die von uns Amerikanern und unseren Verbündeten über viele Jahrzehnte begangenen Ungerechtigkeiten anzuprangern. Nur wenige couragierte Menschen wie Herbert Hoover, George Bell und Victor Gollancz haben es gewagt, uns das moralische Dilemma vor Augen zu führen. In der Tat, wie konnten wir erst im Namen von Demokratie und Selbstbestimmung in den Krieg ziehen und dann, als Frieden war , unsere eigenen Grundsätze verraten? Genauer gesagt, wie konnten wir gegen Hitlers Methoden zu Felde ziehen, um dann während des Krieges und im Anschluß daran selbst ähnliche Methoden anzuwenden?
Bacques Kapitel über Flucht und Vertreibung von fünfzehn Millionen Deutschen am Ende des Krieges gibt uns viel zu denken. In diesem Zusammenhang sollte man sich die Folgerung vergegenwärtigen, die der britische Publizist und Philanthrop Victor Gollancz in seinem Buch Unser bedrohtes Erbe zog:
»Sofern das Gewissen der Menschheit jemals wieder empfindlich werden sollte, werden diese Vertreibungen als die unsterbliche Schande aller derer im Gedächtnis bleiben, die sie veranlaßt oder sich damit abgefunden haben … Die Deutschen wurden vertrieben, aber nicht einfach mit einem Mangel an übertriebener Rücksichtnahme, sondern mit dem denkbar höchsten Maß von Brutalität.« 2
Die unmenschliche Behandlung der Deutschen durch die vorgeblich so mitleidsvollen Amerikaner und Briten stellt eine der kuriosen Anomalien dieses Jahrhunderts dar. Dennoch sind sich die wenigsten Menschen außerhalb Deutschlands überhaupt bewußt, daß eine solche diskriminierende, undemokratische und menschenunwürdige Behandlung jemals stattgefunden hat. Wer hat überhaupt von der ethnischen Säuberung erfahren, von der 15 Millionen Deutsche betroffen waren? Abgesehen von den enormen kulturellen und wirtschaftlichen Folgen dieser demographischen Revolution im Herzen Europas wirft das Phänomen des erzwungenen Bevölkerungstransfers viele Fragen auf, die über die rein deutsche Erfahrung hinausgehen, denn das Recht, in seiner Heimat zu leben, das Recht, in seinem Heim zu bleiben, und das Recht von Flüchtlingen, in ihre Heimat und ihre Häuser zurückzukehren – dies sind fundamentale Menschenrechte, die der Bekräftigung und Geltendmachung bedürfen.
Am 26. August 1994 verabschiedete der UNO-Unterausschuß zur Verhinderung der Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten die Resolution 24/1994, in der dieses Recht auf Verbleib und
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