Versprechen der Nacht
Seine Fänge wieder in ihren menschenähnlichen Zustand zurückzuzwingen, bevor er zum Sprechen ansetzte.
Savannah stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so verwirrt. Und du hast recht, Gideon. Ich habe Angst.« Sie sah so verletzlich und zart aus. So allein. »Ich habe Angst davor, verrückt zu werden.«
Er trat näher und schüttelte leicht den Kopf. »Du wirkst nicht verrückt auf mich.«
»Du weißt es nicht«, antwortete sie leise. »Niemand weiß es, außer Amelie.«
»Niemand weiß was, Savannah?«
»Dass ich … Dinge sehe.« Sie ließ diese Aussage lange zwischen ihnen hängen, suchte seinen Blick, beobachtete sein Gesicht nach einer Reaktion. »Ich habe den Angriff auf Rachel mit angesehen. Ich habe gesehen, wie sie ermordet wurde. Ich habe … das Monster gesehen, das das getan hat.«
Gideon wurde schlagartig sehr still, als sie das Wort
Monster
aussprach. Er bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck, zeigte äußerlich nichts als Ruhe und geduldiges Verständnis, obwohl seine Stammesinstinkte schlagartig in Alarmbereitschaft versetzt waren, seine internen Alarmglocken schrillten. »Wie meinst du das, du hast den Mord an deiner Freundin mit angesehen? Warst du dabei?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe es danach gesehen, als ich einen von Rachels Armreifen draußen vor Professor Keatons Büro gefunden habe. Sie hat ihn in der Mordnacht getragen. Ich habe ihn berührt, und er hat mir alles gezeigt.« Sie presste die Lippen zusammen, unsicher, ob sie weiterreden sollte. »Ich kann nicht erklären, wie oder warum, aber wenn ich einen Gegenstand berühre … kann ich kurze Momente aus seiner Vergangenheit sehen.«
»Und als du ihren Armreif berührt hast, hast du den Tod deiner Freundin gesehen.«
»Ja.« Savannah starrte ihn an mit einem Blick, der viel zu weise war. Trostlos von einem düsteren, unbeirrbaren Wissen. »Ich habe gesehen, wie Rachel von etwas getötet wurde, das kein Mensch war, Gideon. Es sah aus wie einer, aber konnte keiner sein. Mit scharfen Fängen und schrecklichen glühenden gelben Augen.«
Ach. Du. Verdammte. Scheiße.
Dass sie ihm eben gestanden hatte, eine übersinnliche Gabe zu besitzen – was viele Normalsterbliche fingierten, aber nur sehr wenige wirklich besaßen –, war schlagartig vergessen. Es war diese andere Enthüllung, die Gideon das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Als er nicht sofort antwortete, stieß sie ein freudloses Lachen aus. »Siehst du, jetzt denkst du auch, dass ich verrückt bin.«
»Nein, nein.« Er hielt sie nicht für verrückt. Ganz und gar nicht. Sie war intelligent und schön, hundert Jahre Weisheit lag in diesen sanften braunen Augen, die noch keine zwanzig Jahre miterlebt hatten. Sie war außergewöhnlich, und jetzt fragte Gideon sich, ob da noch mehr an Savannah war, als er bisher gedacht hatte.
Aber bevor er ihr die Fragen stellen konnte – über ihre übersinnliche Wahrnehmung und ob sie irgendwo auf dem Körper ungewöhnliche Muttermale hatte –, wandte sie sich von ihm ab, und die Antwort war direkt vor seinen Augen. Ein kleines rotes Muttermal auf ihrem linken Schulterblatt, halb verdeckt vom dünnen Träger ihres weißen Tanktops. Es war unverkennbar: eine Träne, die in die Wiege einer liegenden Mondsichel fiel.
Savannah war keine Normalsterbliche.
Sie war eine Stammesgefährtin.
Ach, verdammt. Das sah nicht gut aus. Gar nicht gut. Es gab Vorschriften zu befolgen, wenn Frauen wie Savannah unter der normalsterblichen Homo-sapiens
-
Bevölkerung entdeckt wurden. Und diese Vorschriften enthielten definitiv nicht Verführung oder falsches Spiel, zwei Dinge, zwischen denen Gideon gerade balancierte wie ein Tänzer auf einem Hochseil.
»Da ich dich mit meiner psychischen Labilität offenbar sprachlos gemacht habe«, fuhr sie fort, als es ihm so untypischerweise die Sprache verschlagen hatte und ihm auch keine schnelle Lösung einfallen wollte, »kann ich dir genauso gut auch die andere Vision erzählen, die ich gesehen habe. Da war ein Schwert in der kunstgeschichtlichen Sammlung, ein sehr altes Schwert. Der einzige Gegenstand, der in der Mordnacht verschwunden ist. Ich habe dieses Schwert neulich auch berührt, Gideon.« Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn an. »Es hat mir die gleiche Art von Kreatur gezeigt – eine ganze Gruppe von ihnen. Mit diesem Schwert haben sie vor langer Zeit zwei kleine Jungen abgeschlachtet. Ich habe noch nie etwas so Schreckliches gesehen.
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