Verstand und Gefühl
sie. »Doch das wird bestimmt bald geschehen. Aber zwei Vorteile werden sich aus dieser Verzögerung ergeben. Ich werde dich nicht so schnell verlieren, und Edward wird mehr Gelegenheit haben, den natürlichen Geschmack an deiner Lieblingsbeschäftigung zu verbessern, der so unbedingt notwendig für dein zukünftiges Glück sein muß. Ach, wenn er durch dein Talent so weit angeregt würde, selbst zeichnen zu lernen, wie wunderbar wäre das!«
Elinor hatte ihrer Schwester ihre wirkliche Meinung dazu gesagt. Sie konnte ihre Eingenommenheit für Edward nicht in einem so günstigen Licht sehen, wie es Marianne getan hatte. Es schien zuweilen, als fehle es ihm an Lebensfreude, und das sprach – wenn es nicht ein Zeichen von Gleichgültigkeit war – von etwas beinahe ebenso Hoffnungslosem. Angenommen, er fühlte wirklich Zweifel an ihrer Zuneigung, |27| so hätte ihm das doch nicht mehr als Unruhe bereiten dürfen. Es wäre unwahrscheinlich, daß bloße Zweifel eine Niedergeschlagenheit hervorrufen würden, wie sie ihn häufig befiel. Einen plausibleren Grund könnte man in seiner abhängigen Lage vermuten, die ihm verbot, seiner Liebe nachzugeben. Sie wußte, daß sich seine Mutter ihm gegenüber zur Zeit weder in einer Weise verhielt, die ihm sein Zuhause angenehm machte, noch daß sie ihm irgendeine Zusicherung geben würde, daß er selbst ein Heim gründen könne, ohne sich strikt nach ihren Vorstellungen für sein Emporkommen richten zu müssen. Da Elinor das wußte, war es ihr unmöglich, in diesem Punkt unbeschwert zu sein. Sie war weit davon entfernt, auf dasjenige Ergebnis seiner Zuneigung zu ihr zu bauen, das ihre Mutter und ihre Schwester noch immer als sicher betrachteten. Ja, je länger sie zusammen waren, desto zweifelhafter schien ihr die Art seiner Zuneigung; und manchmal, während einiger quälender Minuten, glaubte sie, daß es nicht mehr als nur Freundschaft sei.
Doch wie weit diese Zuneigung auch immer gehen mochte, es war genug, um seine Schwester zu beunruhigen, als sie es bemerkte, und sie gleichzeitig – was noch üblicher bei ihr war – unhöflich werden zu lassen. Sie ergriff die erste Gelegenheit, ihrer Schwiegermutter aus diesem Anlaß offen entgegenzutreten, und sie sprach so ausdrücklich von den großen Erwartungen ihres Bruders, von Mrs. Ferrars Entschlossenheit, daß ihre beiden Söhne gute Partien machen sollten, und von den Gefahren, denen sich eine jede junge Frau aussetze, die versuche, ihn
einzuwickeln
, daß sich Mrs. Dashwood weder unwissend stellen noch um Ruhe bemühen konnte. Sie gab ihr eine Antwort, die ihre Verachtung zum Ausdruck brachte, und verließ augenblicklich das Zimmer; und sie beschloß – wie groß auch die Unbequemlichkeiten und Ausgaben eines so plötzlichen Auszuges sein mochten –, daß ihre geliebte Elinor keine weitere Woche solchen Anspielungen ausgesetzt sein sollte.
Während sie sich in diesem Gemütszustand befand, wurde ihr mit der Post ein Brief zugestellt, der gerade zur rechten |28| Zeit einen Vorschlag für sie enthielt. Es ging um das Angebot eines kleinen Hauses zu sehr günstigen Bedingungen, das einem Verwandten von ihr gehörte, einem Herrn von Einfluß und Vermögen. Der Brief kam von diesem Herrn selbst und war in wahrem Geist freundlichen Entgegenkommens geschrieben. Wie er hörte, benötige sie eine Wohnung, und obgleich das Haus, das er ihr jetzt anbiete, nur ein kleines Landhaus sei, versicherte er ihr, daß alles, was sie für nötig befand, daran vorgenommen werden sollte, falls ihr seine Lage gefiele. Er drängte sie, nachdem er ihr die näheren Angaben zu dem Haus und dem Garten gemacht hatte, ernsthaft, mit ihren Töchtern nach Barton Park, dem Ort seines eigenen Wohnsitzes, zu kommen, von wo sie selbst beurteilen könne, ob Barton Cottage – denn die Häuser lägen in der gleichen Gemeinde – durch irgendwelche Veränderungen zu ihrem Wohlbefinden hergerichtet werden könne. Er schien tatsächlich sehr bestrebt, ihnen eine Unterkunft zu bieten, und der ganze Brief war in einem so freundlichen Ton geschrieben, daß er nicht verfehlen konnte, seiner Cousine eine große Freude zu machen – ganz besonders in einem Augenblick, da sie unter dem kalten und gefühllosen Verhalten ihrer viel näheren Angehörigen litt. Sie benötigte keine Zeit für weitere Überlegungen oder Erkundigungen. Ihr Entschluß wurde noch während des Lesens gefaßt. Die Lage von Barton in einer von Sussex so weit entfernten Grafschaft wie
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