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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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fort, »kann niemand im Zweifel sein, der oft genug mit ihm zusammen war, um sich mit ihm ungezwungen unterhalten zu können. Seine ausgezeichneten Kenntnisse und Grundsätze können allein durch jene Scheu verborgen bleiben, die ihn allzu oft schweigen läßt. Du kennst ihn genug, um seinen ganzen Wert zu würdigen. Aber von seinen kleineren Eigenheiten, wie du es nennst, hast du wegen der besonderen Umstände weniger erfahren als ich. Ich bin mit ihm sehr häufig zusammengekommen, während du in so liebevoller Weise vollkommen von unserer Mutter in Anspruch genommen warst. Ich habe ihn sehr viel gesehen, habe einen Einblick in seine Gedanken und Empfindungen gewonnen und seine Meinungen über Literatur und Dinge des Geschmacks gehört; und im ganzen gesehen wage ich zu behaupten, daß er vielseitig gebildet ist, daß sein Vergnügen an Büchern außerordentlich groß ist, daß er eine lebhafte Vorstellungskraft besitzt, daß seine Beobachtungen gerecht und richtig sind und daß er einen feinsinnigen, unverfälschten Geschmack hat. Seine Fähigkeiten ebenso wie seine Umgangsformen |25| und seine Erscheinung gewinnen bei näherem Kennenlernen in jeder Hinsicht. Auf den ersten Blick ist sein Benehmen gewiß nicht eindrucksvoll, und man kann ihn kaum gutaussehend nennen, bis man den Ausdruck seiner Augen, die ungewöhnlich angenehm sind, und seine so liebenswürdigen Gesichtszüge wahrnimmt. Ich kenne ihn jetzt so gut, daß ich finde, er sieht wirklich gut aus – oder zumindest fast. Was sagst du dazu, Marianne?«
    »Ich werde ihn sehr bald auch gutaussehend finden, Elinor, wenn du mir sagst, ich soll ihn als Schwager lieben; dann werde ich an seinem Gesicht genausowenig Unvollkommenheiten sehen, wie ich sie jetzt in seinem Herzen sehe.«
    Elinor erschrak bei dieser Erklärung, und sie bereute den Eifer, zu dem sie sich hatte verleiten lassen, als sie von ihm sprach. Sie fühlte, daß sie eine sehr hohe Meinung von Edward hatte. Sie glaubte auch, daß diese freundschaftlichen Empfindungen gegenseitig waren; doch sie brauchte größere Gewißheit, um Mariannes Überzeugung, daß sie einander liebten, gern zu hören. Sie wußte, daß Marianne und ihre Mutter diejenigen Dinge, die sie in einem Moment vermuteten, im nächsten Moment glaubten – daß für sie, etwas zu wünschen, zu erhoffen bedeutete, und etwas zu erhoffen, es erwarten hieß. Sie versuchte, ihrer Schwester den tatsächlichen Stand der Dinge zu erklären.
    Ich will nicht leugnen«, sagte sie, »daß ich sehr viel von ihm halte – daß ich ihn außerordentlich schätze, daß ich ihn gern habe.«
    Marianne barst vor Empörung: »Ihn schätzen! Ihn gern haben! Kaltherzige Elinor. Ach, schlimmer als kaltherzig! Schämt sich, anders zu erscheinen. Gebrauche diese Worte noch einmal, und ich verlasse augenblicklich das Zimmer.«
    Elinor mußte lachen. »Entschuldige«, sagte sie, »und sei versichert, ich wollte dich nicht beleidigen, als ich so ruhig über meine Gefühle sprach. Denke sie dir stärker, als ich sie erklärt habe; denke sie dir, kurz gesagt, so, wie es seine Vorzüge und der Verdacht – die Hoffnung auf seine Zuneigung zu mir es rechtfertigen mögen, ohne jede Unbesonnenheit |26| oder Torheit. Aber an mehr als das darfst du nicht glauben. Ich bin keineswegs seiner freundschaftlichen Gefühle mir gegenüber gewiß. Es gibt Augenblicke, in denen der Grad seiner Freundschaft zweifelhaft scheint; und solange ich seine Gefühle nicht ganz und gar kenne, darfst du dich nicht wundern, daß ich jede Bestärkung meiner eigenen Eingenommenheit für ihn vermeiden möchte und deshalb nicht mehr glaube oder in Worte fasse, als da ist. In meinem Herzen fühle ich wenig – fast keine – Zweifel an seiner Neigung zu mir. Aber da gibt es noch anderes zu bedenken als nur seine Zuneigung. Er ist weit davon entfernt, unabhängig zu sein. Was seine Mutter wirklich für eine Frau ist, wissen wir nicht. Aber aus Fannys gelegentlichen Bemerkungen über ihr Verhalten und ihre Meinungen hatten wir nie Anlaß, sie für angenehm zu halten; und ich müßte mich sehr irren, wenn Edward sich nicht selbst bewußt ist, daß es da viele Schwierigkeiten für ihn geben würde, wenn er eine Frau heiraten wollte, die weder ein großes Vermögen noch einen hohen Rang besitzt.«
    Marianne stellte erstaunt fest, wie sehr doch die Vorstellungen ihrer Mutter und ihre eigenen über den wahren Sachverhalt hinausgeschossen waren.
    »Und du bist wirklich nicht mit ihm verlobt!« sagte

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