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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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können; und ich erfuhr von meinem Bruder, daß die Empfangsbefugnis dafür einige Monate zuvor einer anderen Person übertragen worden war. Er vermutete – und das konnte er ganz gelassen tun   –, daß ihre Verschwendungssucht und die daraus entstandene Not sie gezwungen hatten, diese für eine sofortige Abhilfe zu veräußern. Doch endlich, nachdem ich bereits sechs Monate in England war, fand ich sie tatsächlich. Die Freundschaft zu einem meiner früheren Diener, der seither in Not geraten war, veranlaßte mich, ihn in der Wohnung eines Gerichtsdieners zu besuchen, wo er als Schuldgefangener eingesperrt war; und dort, in dem gleichen Haus, unter einem ähnlichen Arrest befand sich meine unglückliche Schwägerin. So verändert – so verblüht – zermürbt durch schlimme Leiden aller Art! Ich konnte kaum glauben, daß diese jammervolle, kränkliche Gestalt vor mir das liebliche, blühende, gesunde Mädchen von einst war, das ich so abgöttisch geliebt hatte. Ich litt unendlich, als ich sie so sah – aber ich habe kein Recht, Ihre Gefühle zu verletzen, indem ich Ihnen das zu beschreiben versuche – ich habe Sie schon allzusehr gequält. – Daß sie sich allem Anschein nach im letzten Stadium der Schwindsucht befand, war – ja, in einer solchen Lage war das mein größter Trost. Das Leben konnte ihr außer einem Zeitaufschub, um besser auf den Tod vorbereitet zu sein, nichts mehr bedeuten; und der ward ihr gegeben. Ich sorgte dafür, daß sie bequem untergebracht war und ordentliche Pflege hatte, und besuchte sie jeden Tag während ihres nur noch kurzen Lebens. Ich war bei ihr in ihren letzten Augenblicken.«
    Erneut hielt er inne, um seine Fassung wiederzugewinnen; und Elinor gab ihren Gefühlen in einem Ausruf sanften Mitgefühls an dem Schicksal seiner unglücklichen Freundin Ausdruck.
    »Ich hoffe«, sagte er, »Ihre Schwester wird nicht gekränkt sein durch den Vergleich, der mir zwischen ihr und meiner armen, in Schande gekommenen Verwandten in den Sinn gekommen |226| ist. Ihr Schicksal, ihre Lebenswege sind selbstverständlich sehr verschieden; doch wäre die natürliche, liebevolle Veranlagung der einen von einer festeren Hand behütet worden, oder hätte sie eine glückliche Ehe gehabt, hätte sie ganz so sein können, wie Sie es bei der anderen erleben werden. Aber wohin führt das alles? Es scheint jetzt fast, ich habe Sie ganz umsonst gequält. Ach, Miss Dashwood – eine Sache wie diese   ..., an die ich vierzehn Jahre nicht gerührt habe   ..., es ist gefährlich, sie überhaupt heraufzubeschwören! Ich will mich mehr sammeln – mich kürzer fassen. Sie hinterließ meiner Fürsorge ihr einziges Kind, ein kleines Mädchen, die Frucht ihrer ersten schuldhaften Verbindung, das damals etwa drei Jahre alt war. Sie liebte das Kind und hatte es immer bei sich. Es war ein geschätztes, kostbares Pfand, das mir anvertraut war; und ich hätte diese Aufgabe freudig im striktesten Sinne erfüllt und selbst über ihre Erziehung gewacht, wenn meine Lage es gestattet hätte; aber ich hatte keine Familie, kein Heim, und meine kleine Eliza wurde deshalb in eine Schule gegeben. Ich sah sie dort, sooft ich konnte, und nach dem Tod meines Bruders (durch den ich vor etwa fünf Jahren in den Besitz des Familieneigentums kam) besuchte sie mich häufig in Delaford. Ich nannte sie eine entfernte Verwandte, aber ich bin mir wohl bewußt, daß ich allgemein einer viel näheren Beziehung zu ihr verdächtigt werde. Es ist jetzt drei Jahre her (sie war gerade vierzehn Jahre alt geworden), daß ich sie von der Schule nahm, um sie in die Obhut einer sehr achtbaren Frau zu geben, die in Dorsetshire lebt und die etwa vier oder fünf andere Mädchen etwa gleichen Alters betreute; und zwei Jahre lang hatte ich allen Grund, mit ihrer Lage zufrieden zu sein. Doch letzten Februar, vor fast einem Jahr, verschwand sie plötzlich. Ich hatte ihr auf ihren dringenden Wunsch erlaubt (unvorsichtigerweise, wie sich herausstellte), mit einer ihrer jungen Freundinnen nach Bath zu gehen, die ihren Vater begleitete, der sich dort aus gesundheitlichen Gründen aufhielt. Ich kannte ihn als einen sehr ehrbaren Mann, und ich hatte auch eine gute Meinung von seiner Tochter – eine bessere, als sie verdiente, denn mit äußerst |227| hartnäckiger, unkluger Verschwiegenheit wollte sie mir nichts sagen, wollte mir keinen Hinweis geben, obgleich sie bestimmt alles wußte. Er, ihr Vater, ein wohlmeinender, doch kein scharfsichtiger Mann, konnte

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