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Verstand und Gefühl

Titel: Verstand und Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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nicht sein«, rief sie; »sie hat kein Gefühl. In ihrer Freundlichkeit liegt keine Sympathie, in ihrer Gutmütigkeit keine Zärtlichkeit. Alles, was sie will, ist Klatsch, und sie mag mich jetzt nur, weil ich sie damit versorge.«
    Elinor hatte dieses Beispiel nicht gebraucht, um von der |219| Ungerechtigkeit überzeugt zu sein, zu der ihre Schwester häufig durch die reizbare Überfeinerung ihres ganzen Wesens und das allzu große Gewicht, das sie auf die Feinheiten einer starken Empfindsamkeit und die Tugenden gebildeter Lebensart legte, in ihrer Meinung über andere verleitet wurde. Wie die halbe übrige Welt auch, wenn nicht gar mehr als die halbe, war Marianne, bei vorzüglichen Fähigkeiten und vorzüglichen Charakteranlagen, zwar klug und gut, aber weder einsichtig noch objektiv. Sie erwartete von anderen Leuten die gleichen Meinungen und Gefühle wie ihre eigenen, und sie beurteilte deren Beweggründe nach der augenblicklichen Wirkung ihrer Handlungen auf sich selbst. So ereignete sich, während sich die Schwestern nach dem Frühstück zusammen in ihrem Zimmer befanden, etwas, das Mrs.   Jennings in ihrer Achtung noch tiefer sinken ließ – weil es sich durch ihre eigene Schwäche zufällig als eine Quelle frischen Schmerzes für sie selbst erwies, obgleich Mrs.   Jennings dabei von einer Regung äußersten Wohlwollens geleitet wurde.
    Mit einem Brief in der ausgestreckten Hand und fröhlich lächelnd in der Überzeugung, Trost zu bringen, betrat sie das Zimmer und rief: »Jetzt bringe ich Ihnen etwas, meine Liebe, das Ihnen gewiß wohltun wird.«
    Marianne hatte genug gehört. Sofort sah sie in ihrer Phantasie einen Brief von Willoughby vor sich, voller Zärtlichkeit und Reue, in dem er alles, was vorgefallen war, erklärte, befriedigend und überzeugend – und augenblicklich gefolgt von Willoughby selbst, der ungestüm ins Zimmer stürzte, um zu ihren Füßen mit der Beredsamkeit seiner Augen die Versicherungen seines Briefes zu bestärken. Das Werk des einen Augenblicks wurde zerstört durch den nächsten. Sie erkannte die Handschrift ihrer Mutter, die bis dahin niemals unwillkommen gewesen war; und bei der Heftigkeit der Enttäuschung, die einem solchen, mehr als nur Hoffnung verheißenden Glückstaumel folgte, fühlte sie sich, als hätte sie bis zu diesem Augenblick noch nie wirklich gelitten.
    Mrs.   Jennings’ Grausamkeit hätten keine Worte, wie sie ihr in Augenblicken glücklichster Beredsamkeit zu Gebote standen |220| , auszudrücken vermocht; und nun konnte sie ihr nur mit den Tränen, die mit leidenschaftlicher Heftigkeit ihren Augen entströmten, Vorwürfe machen – Vorwürfe, die so vollständig an Mrs.   Jennings verloren waren, daß sie sich nach vielen Äußerungen des Mitleids zurückzog, noch immer auf den Brief um Trost verweisend. Doch der Brief brachte ihr, als sie ruhig genug war, um ihn zu lesen, wenig Trost. Willoughby füllte jede Seite. Ihre Mutter, die immer noch von ihrer Verlobung überzeugt war und so leidenschaftlich wie je auf seine Beständigkeit vertraute, war durch Elinors Ersuchen nur soweit wachgerüttelt worden, als sie von Marianne inständig größere Offenheit ihnen beiden gegenüber erbat, doch das mit einer solchen Zärtlichkeit für sie, einem solchen Wohlwollen für Willoughby und einer solchen Überzeugung von ihrem zukünftigen Glück miteinander, daß sie in ihrer Qual während des ganzen Lesens weinte.
    Mariannes große Ungeduld, nach Hause zu kommen, kehrte nun wieder; ihre Mutter war ihr teurer denn je – teurer, gerade durch dieses Übermaß an irrtümlichem Vertrauen in Willoughby, und sie drängte stürmisch darauf, abzureisen. Elinor, die selbst nicht zu entscheiden vermochte, ob es für Marianne besser wäre, in London oder in Barton zu sein, gab ihr nur den Rat, Geduld zu haben, bis sie erfahren würden, was ihre Mutter wünschte; und sie konnte schließlich die Zustimmung ihrer Schwester erlangen, dies abzuwarten.
    Mrs.   Jennings verließ sie früher als gewöhnlich, denn sie konnte nicht ruhen, ehe sich die Middletons und die Palmers nicht ebenso grämen konnten wie sie selbst; sie lehnte Elinors angebotene Begleitung mit Bestimmtheit ab und fuhr für den Rest des Vormittags allein aus. Elinor, die sich des Schmerzes bewußt war, den sie mit ihrer Mitteilung bei ihrer Mutter auslösen mußte – denn an ihrem Brief an Marianne hatte sie gesehen, wie wenig Erfolg sie damit gehabt hatte, ihre Mutter etwas darauf vorzubereiten   –,

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