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Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Steilhang mitten im Dorf gebauten Bauernhofes befand, am Ende einer ausgedehnten hölzernen Galerie, in deren Übergang zur Scheune, Teil oder Winkel zugleich dieser wie auch der Galerie, vollkommen unauffällig, von derselben grauen Verwitterungsfarbe wie die Planken der Galerie und die Bretter der Tenne, leicht zu übersehen, kaum als eigener Ort kenntlich, nicht einmal als Verschlag, geschweige denn als »Abtritt«, zumal das mehr oder weniger landesübliche Herz in der Tür fehlte, und diese auch nicht als eine Türe kenntlich war – nichts als die zwischen Galerie und Tenne leicht vorspringende Bretterwand, in den Augen eines Ortsfremden vielleicht die Nische für die großväterlichen Zimmermannswerkzeuge. Jedoch es kam ins Haus selten ein Besucher, höchstens, einmal im Jahr, derBezirksvertreter der Allgemeinen Versicherung, der »Assicurazioni Generali«, und für den hätte im Fall eines Brandschadens oder Blitzschlags eine solche Räumlichkeit kaum mitgezählt. Auffällig, so oder so, wie weit weg von allem sonst, Alltag wie Fest, jener bäuerliche Abort lag; schwer vorstellbar in dem slowenischen Dorf Stara Vas, im Unterschied zu den bürgerlichen Marktflecken unten in der Ebene, ein öffentliches Notdurftverrichten wie etwa auf manchen holländischen Genrebildern aus dem 17. Jahrhundert.
    Jetzt aber fällt mir an jenem Stillen Ort noch etwas Spezielles auf: das Licht in dem kleinen Verschlag, sogar zweierlei Lichter (ohne Lichtschalter natürlich, und ich weiß nicht, wie die verzweigte Familie in der Nacht dahin fand über die finstere Galerie, mit Petroleumlicht? Taschenlampe? Kerze? tastend?): das erste der Lichter oben, an Ort und Stelle sozusagen – wie es durchdie Ritzen des Holzverschlags kam? nein, der Großvater war Fachmann genug, daß er beim Zimmern keinen Platz für auch nur eine Ritze gelassen hätte – das Licht drang vielmehr durch das Holz und aus dem Holz selber, wie gefiltert, punktweise auch durch die winzigen, kaum nadelöhrgroßen Durchstiche an den einstigen mehr oder weniger runden Aststellen des zu Brettern gesägten Baumstamms, die im Trocknen vielleicht stärker geschrumpft waren als der Stamm. Seltsames indirektes Licht, wie nirgends sonst im Haus; indirekt, das heißt ohne Fenster, dafür umso stofflicher; Licht, das umgab – von dem man sich in dem Stillen Ort umgeben fand – man? – ich, also doch schon damals »ich« dort?
    Und das zweite der Lichter? Das beim Blick in den langen senkrechten Schacht nach unten, auf den Ausschnitt des Misthaufens gleichsam in der Tiefe. Es ist das ein Licht, welches schachtaufwärts steigt – erwarteteuch bitte kein »zugleich mit dem Gestank«, keine Erinnerung an den, keine Rede davon –, nicht bis zu dem, zu »mir«, der hinunter durch das Loch äugt, sondern höchstens bis zur halben Höhe des Schachts, nein, nicht einmal, kaum eine Ellbogenlänge hoch, und sich dort unten konzentriert, ein ganz anders stofflicher Schimmer als der den Äuger oben umgebende, ein Schimmern, das wohl verstärkt wird von dem vielen Gelb des mit dem Viehmist vermengten Strohs in der Tiefe und die Innenwände des Schachts plastisch macht, indem es deren Form, den Kreis, nachzieht: lebende Geometrie, natürliche. Und warum fällt mir dazu jetzt die von meiner Mutter erzählte örtliche Anekdote wieder ein, wonach ein Kind einen Korb voll wohlgeformter glänzender Birnen dem Dorfgeistlichen aufwartet mit der Bemerkung: »Herr Pfarrer, ich soll Sie grüßen von meinen Eltern mit diesen Birnen vom Scheißhausbaum!«?
    Warum und wie auch immer: Anders als der jugendliche Held in »Die Sterne blicken herab« habe ich in der Kindheit das Klosett kein einziges Mal zum Rückzug benötigt. Von damals habe ich den Stillen Ort, die Stillen Orte, wenn überhaupt, einzig als Betrachter, eben als Äuger, als eine Art Medium im Gedächtnis. Nicht einmal als still habe ich jene Örtlichkeit erlebt – weder still noch heimlich, noch sonstwie: Geräusche, gleichwelche, taten und tun nichts zur Sache. (Geschweige denn tun Gerüche, seltsam, oder auch nicht.) Äuger? Durchgangsstation? Randfigur, körperlose, unsichtbare, leer der Ort, nichts als ein Schauen, damals wie jetzt.
    Erstmals als eine Zentralfigur, in Fleisch und Blut, leibhaftig, sehe ich mich an solch einem Stillen Ort dann fern von der Dorfheimat – ja, so hieß die einmal. Das war während der Jahre im Internat. Und am eindrücklichsten ist das geschehen dort gleicham Anfang, am Abend des Tags meines

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