Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Versuch über den stillen Ort (AT)

Versuch über den stillen Ort (AT)

Titel: Versuch über den stillen Ort (AT) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
und noch weit später dann erst den Karst, ohne den es nie eine »Wiederholung« gegeben hätte.

    Während der Studienjahre verlor das Klosett als Asylort an Bedeutung. An seine Stelle traten zunehmend andere Örtlichkeiten, Bauten, Stätten. Und die brauchte ich auch gar nicht mehr leibhaftig aufzusuchen. Es genügte in der Regel, des »Bedarfsgegenstandes« bloß so gewahr zu werden. Das konnte ein Werkzeugschuppen irgendwo sein, eine Straßenbahnremise, ein über Nacht leerstehender Bus, ein wenn auch halb eingestürzter unterirdischer Bunker aus werweißwelchem Krieg. Ebensogut taten es Räume, welche für sich im Grunde gar keine rechten waren: Der bloße Anblick des leeren Platzes unter einer Rampe, der Laderampe einer Molkerei, einer Spedition oder sonst einer Rampe, konnte etwas wie einen möglichen Unterschlupf oder ein Rückzugsgebiet verheißen, und episodisch zu Pyramiden zusammengestellte Reklame- oder Wahlplakatwände waren, wenn nicht grade Behausungen, so doch denkbare Aufenthaltsorte, wo es in der Vorstellung trocken und warm war, jedenfalls wärmer und heimeliger als draußen im Freien.
    Manchmal kamen solche Augenblicke von Ver- und Geborgenheit allein schon vom Blick zu Boden, hinein in die Straßenbahnschienen, angesichts des Sands und des Laubs dort. Das wurde dann ein stiller Ort, auch wenn zugleich die Glocke der Tram schrillte und die Tramräder in der nahen Kurve schrammten wie keine noch so dicke Kreide auf einer Schiefertafel. In diese stille, bis auf den Sand und das Laub leere Schiene fand man sich hinein- und weggedacht (so ein »man« einmal am Platz), ohne sich eigens in ein welkes, eingerolltes Blatt verkriechen zu wollen, wie ein Ich das möchte in einem Gedicht von Hermann Lenz.
    Merkwürdig auch, daß immer wieder die bloße Vorstellung eines der stillen Orte in der Dorfkindheit für den Ort selber stand, ja, daß die Erinnerung an ihn in derRaum- und Zeitenferne ihn sogar ungleich wirksamer in Erscheinung treten ließ, als das damals dort der Fall gewesen war. Solche Heimkehr- oder Einkehr- oder Abbiegestätten wurden jetzt, zum Beispiel, die, im übrigen mehr und mehr unbenutzten, ländlichen Viehwaagen, in den Boden, die Erde oder den Asphalt, ziemlich gleich auf gleich eingelassene, bewegliche Holzplankenflächen, mit Platz für den längsten der Stiere und die breiteste aller Kühe, die Waagemechanismen in der Höhlung unter den Planken, von wo das jeweilige Viehgewicht wohl zifferngerecht übertragen wurde in das Waagehäuschen gleich hinter dem Waageplatz: dieser, wenn man als Kind und auch später sich daraufstellte und ruckelte, ruckelte, beweglich wie er war, mit einem mit, und ab einem gewissen Moment konnte man still auf den Planken stehen, und diese übernahmen für eine Zeitlang das Ruckeln, welches eine Art von Schaukeln und Geschaukeltwerden war.
    Und es versteht sich, daß während der städtischen Studienjahre die schon lange vorher als still erlebten Orte wie die Milchstände am Rand der Landstraßen, die Heuschober und Heuharfen auf den Wiesen, und insbesondere die klitzekleinen hölzernen Feldhütten inmitten der Äcker aus der Ferne noch ungleich verstärkt die, wie es schien, von Zeit zu Zeit immer notwendigere Stille herstrahlten.
    Es war kein Heimweh. Es zog einen nicht dahin. Die Milchstände, selbst wenn sie längst außer Dienst waren, vermoderten und zusammen- oder auseinanderfielen, die Heuschober, selbst wenn das Heu, das vorvorvorjährige inzwischen, in ihnen verschimmelte und verfaulte, die Feldhüttchen, selbst wenn die letzten der Mostkrüge drinnen längst im Winterfrost zu Scherben gefallen und für die zu Stein gewordenen Brotrinden und zu Leder gewordenen Speckschwarten keine Feldmaus mehr aufdie Sprünge käme: Alle jene stillen Orte waren ja da, hier in und bei mir und insbesondere um mich herum, auch wenn, mag sein, nicht ganz so habhaft, betastbar und »ruchbar« wie früher, vielleicht umso weniger anfällig für die geltenden Zeitumstände – umso widerstandsfähiger, und den Widerstand auch leistender.
    Noch merkwürdiger, daß man, ohne Vorsatz oder gar Plan, die stillen Orte allein aus sich selber heraus schaffen konnte, von Fall zu Fall, inmitten eines Tumults (gerade im Tumult), inmitten von dem zeitweise noch ungleich stärker geisttötenden Gerede. Solche Orte bauten sich auf und schirmten einen ab, indem man während der und der Vorlesung die großen und sogar weniger großen Texte, ja, der Literatur las. Einmal geschah

Weitere Kostenlose Bücher