Versuch über den stillen Ort (AT)
Kann sein, daß mir der eine oder andere meiner Kumpane, eher noch Lehrer, in der Aus- und Alleinzeit gefehlt hat. Nur zog es mich nach dem Verlassen des Krankenzimmers ganz und gar nicht in deren Richtung. Dabei hätte ich mich sofort zurückmelden sollen, zum Unterricht oben in einer der Schloßdachzimmerklassen. Statt dessen drückte ich mich kreuz und quer durch die frühvormittäglich verlassenen Korridore und Schloßhofgalerien und versteckte oder, eher, stahl mich in eine der ebenso leeren Gemeinschaftstoiletten. Die nächste Pause war noch fern, und ich hatte wieder Glück und blieb dort lange ungestört. Nur war es, nach dem geheizten Krankenzimmer, winterlich kalt in der Raumflucht oder dem Fluchtraum, und das beständige allseitige Wasserrauschen oder -brausen schien die Kälte noch zu steigern. Es fror mich immer mehr. Ob auch deshalb, weil ich nach den Fiebertagen Untertemperatur hatte? Und mein Frösteln und Zittern und Bibbern, sie waren mir nur recht. Ich würde so lange in den Toiletten bleiben, bis das Fieber, womöglich verstärkt, zurückkehrte. Ich sperrte mich ein in die Kabine, welche die nächsteam halb offenen Fenster war. Da stand ich, bis nach der Schulpause, und bis zur nächsten. Noch wurde nicht nach mir gesucht, noch nicht. Nur nicht mit den Zähnen klappern. Tu dein Werk, kalter Ort, mach mich fiebern. Aber das Fieber, es stellte sich nicht wieder ein, selbst nicht am Ende des Eisvormittags.
Länger habe ich später nur noch einmal in solch einem Stillen Ort ausgeharrt. Das war in den langen freien Monaten nach dem Ende der Schulzeit. Deren letzte zwei Jahre in einer öffentlichen Lehranstalt, so gesellig verbracht wie auch gut vorbei, das Internat wie nie gewesen, nicht einmal mehr ein Hirngespinst. Die neuen Mitschüler und Mitschülerinnen waren bald eine vertraute Gruppe geworden, und ich, oder »der Ich von damals«, ein Mitglied davon, wenn nicht der Hahn im Korb, so doch für Momente der Möchtegern-Hahn, wie auch, der eine mehr, der andere weniger, die eher seltenen Buben der Klasse, welche ungewöhnlich klein war – vielleicht auch deswegen die Einheitlichkeit?
Und nun, Lehrjahre aus, waren die anderen, die Gruppe, die meine, die anderen alle, vollzählig, nur ohne mich, zu einer Reise durch Jugoslawien und Griechenland aufgebrochen. Sie hatten mich sämtlich – und das bilde ich mir jetzt nicht ein – mit dabeihaben wollen, und ich war es gewesen, welcher sich davongestohlen hatte. Davongestohlen mit Ausreden und Ausflüchten: Meine Mutter könne mir kein Geld für die Fahrt geben. (Obwohl das der Wahrheit entsprach, war es eine Ausrede.) Ich hätte, als Staatenloser, keinen Reisepaß. Das entsprach ebenso den Tatsachen, aber dem hätte, nach Versicherung der Zuständigen, abgeholfen werden können, und so, indem ich ablehnte, wie zuvor den Vorschlag einer Geldsammlung für mich, benutzte ich auch das zuletzt nur als eine Ausflucht.
Bis heute weiß ich nicht, warum etwas in mir sich dergestalt sträubte, Teil der doch nicht unlieben Gesellschaft auf jener Reise zu sein. Jedenfalls fand ich mich eines schönen Sommertages Anfang der sechziger Jahre allein in dem Heimatdorf, fern der Schule, getrennt von meinen Leuten, hektisch untätig nach der reichen Miteinanderzeit zuvor.
So bin ich dann meinerseits aufgebrochen, allein, einen prall mit Kleidungsstücken usw. gefüllten, damals üblichen Seesack über der Schulter, was mir das Aussehen eines Burschen geben sollte, der sehr lange unterwegs sein würde.
Weit bin ich freilich nicht gekommen, und lange unterwegs gewesen schon gar nicht. Zwar ging der Weg westwärts, aber auch in der Richtung ist das Kärntner Land eher kurz, und ich gelangte über seine Westgrenzen nicht hinaus. Am ersten Tag immerhin Villach, in Westernmeilen gezählt etwafünfzig Meilen weg von zu Hause, erreicht, weiß nicht mehr wie, und dort übernachtet, weiß nicht mehr wo. Am zweiten Tag schaffte ich es schon weniger weit – nur bis zum Marktort Radenthein nah am Millstätter See, wo ich die Familie eines Schulfreundes heimsuchte und dort im Haus, mitsamt dem dicken Schlafsack, übernachtete, weiß nicht, ob in einem Bett, auf einem Sofa, oder wo, oder wie.
Dafür weiß ich, wo ich die dritte Nacht verbracht habe, und insbesondere, wie. Das war in der Kleinstadt Spittal an der Drau, ein kurzer Weg nur von Radenthein und noch kürzer vom Millstätter See: Inzwischen nennt sich die Stadt ja auch nicht mehr nach dem Fluß, sondern nach dem See:
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