Versuch über die Müdigkeit
Schlußfest der Tour de Suisse kam, wo sie im Auftrag ihrer da mitmischenden Bank die Fahrer zu betreuen gehabt hatte: Blumen überreichen, Küsse auf die Wange für die jeweils auf dem Podest …Es erzählte aus der Müden so übergangslos, als wüßten wir sonst alles voneinander. Einer, der zweimal hintereinander Sieger geworden war und wieder seinen Kuß abbekommen sollte, erkannte sie dabei schon nicht mehr; so sehr, das erzählte sie heiter, voller Achtung, nicht enttäuscht, seien die Fahrer beschäftigt nur mit ihrem Sport. Nun würde sie sich aber nicht schlafenlegen, sondern, hungrig wie sie auch sei, mit ihrer Freundin in Biel mittagessen – wobei mir jetzt ein weiterer Anlaß für jene weltvertrauende Müdigkeit klar wird: ein gewisses Hungerhaben. Die Müdigkeit der Sattheit schafft so etwas nicht. »Wir waren hungrig und müde«, so erzählt die junge Frau in Hammetts »Gläsernem Schlüssel« Ned Beaumont ihren Traum von ihnen beiden: Was sie zusammengebracht hat, auch für das Weitere, waren Hunger und Müdigkeit. – Eine besondere Empfänglichkeit für derartige Müdigkeiten scheinen mir, neben den Kindern – immer wieder das großäugige, erwartungsvolle Sichumdrehen nach dem da Sitzenden – und den Mitmüden, die Idioten und die Tiere zu haben. Ein Idiot vor ein paar Tagen hier imandalusischen Linares, der an der Hand seines Angehörigen abwesend dahinhoppelte, bekam bei meinem Auf-der-Bank-Sitzen nach der Zettelwirtschaft des Vor- und Nachmittags so überraschte Augen, als sähe er da einen seinesgleichen, oder anders: jemand noch Erstaunlicheren. Von dem ganzen Gesicht, nicht nur den Augen des Mongoloiden, wurde ich angestrahlt; er blieb sogar stehen und mußte regelrecht weitergezerrt werden – reines Vergnügen in seinem Antlitz, einfach darüber, daß ein Blick den seinen wahrnahm und gelten ließ. Und das war eine Wiederholung: Dort und dort schon sind die Idioten des Erdkreises, europäische, arabische, japanische, mit kindlicher Freude das Schauspiel ihrer selbst vorführend, in das Blickfeld des Idioten der Müdigkeit einbezogen. – Als ich nach einer Arbeit und einem langen Fußweg durch eine baumlose friulanische Ebene »durchmüdet« an einem Waldsaum bei dem Dorf namens Medea vorbeikam, lagerten dort im Gras ein Entenpaar, ein Reh und ein Hase nebeneinander und führten bei meinem Auftritt, nach den ersten Fluchtbewegungen, ihrGleichmaß vor, grasrupfend, äsend, herumwatschelnd. – Beim Kloster Poblet in Katalanien begegneten mir auf der Landstraße zwei Hunde, einer groß, einer kleiner, wie Vater und Sohn, die dann mit mir mitgingen, einmal hintennach, einmal mich überholend. Ich war so müde, daß die übliche Hundeangst ausblieb, und außerdem, so stellte ich mir vor, hätte ich durch das viele Gehen in der Gegend schon deren Geruch angenommen und wäre den Hunden vertraut. Diese begannen auch wirklich zu spielen: indem »der Vater« um mich herumlief und »der Sohn«, ihm nach, mir durch die Beine. Ja, dachte ich, das ist ein Bild für die richtige menschliche Müdigkeit: sie öffnet, sie macht durchlässig, sie schafft einen Durchlaß für das Epos aller Wesen, auch dieser Tiere jetzt. – Hier aber ist vielleicht eine Einfügung am Platz: Auf der Schutt- und Kamillensteppe vor Linares, wo ich jeden Tag hinausgehe, wurde ich Zeuge ganz anderer Geschehnisse zwischen Menschen und Tieren als solcher. Davon nur in Stichworten: Die da vereinzelt in der Weite wie zum Ausruhen im Schatten der Trümmer oder Steinblöcke Sitzenden, in Wahrheit aber Lauernden, in Schußweite zu den im Umkreis an biegsamen Stangen in den Schutt gesteckten winzigen Käfigen, kaum Raum für die flatternden, doch um so mehr die Käfige ins Wackeln bringenden Kleinvögel darin, bewegliche Köder für die Großvögel (Schatten des Adlers aber weit weg von den Fallen, bei mir übers Papier streichend, beim stillen, auch unheimlichen Eukalyptushain an den Bleibergwerksruinen, meinem Schreibplatz im Freien während des ekstatischen Schrillens und Posaunens der spanischen Karwoche); – oder die wie übermütig mit dem Sonnenuntergang aus der Zigeunersiedlung auf die Heide stürzenden Kinder, umtänzelt von einem grazilen, edelköpfigen Hund, dann, brüllend, außer sich, als Zuschauer eines Spektakels, vorgeführt von einem Halberwachsenen, bestehend im Aussetzen eines Hasens auf der Savanne und dem Nachschießen des Hundes, dem baldigen Eingeholtwerden des Hakenschlägers, dem Nackenbiß des Hundes,
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