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Versuch über die Müdigkeit

Versuch über die Müdigkeit

Titel: Versuch über die Müdigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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verstorbene Frau trauert. – Dem ideal Müden »wird Phantasie«, nur eine andere als etwa den Schlafenden in der Bibel oder der Odyssee, die Gesichte haben: ohne Gesichte: ihm zeigend, was ist. – Und jetzt bin ich, wenn nicht müde,so doch frech genug, um meine Phantasie der letzten Stufe der Müdigkeiten zu erzählen. Auf dieser Stufe saß der müde Gott, müde und machtlos, in seiner Müdigkeit aber – um einen Ruck müder noch als je ein Menschenmüder – allgegenwärtig, mit einem Blick, der, würde er von den Gesehenen, wo auch immer im Weltgeschehen, sich bewußt gemacht und zugelassen, doch eine Art Macht hätte.
    Genug von den Stufen! Sprich doch einmal von der dir vorschwebenden Müdigkeit einfach so, wie es kommt, im Durcheinander.
    Danke! Solch ein Durcheinander entspricht jetzt mir und meinem Problem. – Also: Eine Pindarsche Ode auf einen Müden, statt auf einen Sieger! Die Pfingstgesellschaft, wie sie den Geist empfing, stelle ich mir durch die Bank müde vor. Die Inspiration der Müdigkeit sagt weniger, was zu tun ist, als was gelassen werden kann. Müdigkeit: der Engel, der des einen träumenden Königs Finger berührt, während die anderen Könige traumlos weiterschlafen. Gesunde Müdigkeit – sie allein schon die Erholung. Ein gewisser Müder als ein anderer Orpheus, um den sich die wildesten Tiere versammeln und endlich mitmüde sein können. Die Müdigkeit gibt den verstreuten Einzelnen den Takt. Philip Marlowe – noch ein Privatdetektiv – wurde im Lösen seiner Fälle, je mehr schlaflose Nächte sich reihten, immer besser und scharfsinniger. Der müde Odysseus gewann die Liebe der Nausikaa. Die Müdigkeit verjüngt, so wie du nie jung warst. Die Müdigkeit als das Mehr des weniger Ich. Alles wird in ihrer, der Müdigkeit Ruhe erstaunlich – wie erstaunlich doch der Papierpacken, den der erstaunlich gemächliche Mann dort unter dem Arm über die erstaunlich stille Calle Cervantes trägt! Inbegriff der Müdigkeit: In der Osternacht einst lagen bei der Auferstehungsfeier die alten Männer des Dorfs bäuchlings in der Kirche vor dem Grab, einen roten Brokatumhang an der Stelle des blauen Arbeitszeugs, die sonnenverbrannte Haut hinten am Nacken von den lebenslangen Anspannungen in ein Muster von Vielecken ähnlich dem der Erde gespalten; die sterbende Großmutter, in ihrer stillen Müdigkeit, besänftigte das ganze Hausund sogar den unverbesserlichen Jähzorn ihres Mannes; und an allen Abenden hier in Linares schaute ich dem Müdewerden der vielen Winzigkinder, mitgeführt in die Bars, zu: keine Gier mehr, kein Greifen mehr in den Händen, nur noch ein Spielen. – Und ist es bei dem allen nötig, zu sagen, daß selbst in solchen Tiefenbildern der Müdigkeit die Trennungen bestehen bleiben?
    Gut und schön: Eine gewisse Anschaulichkeit ist deinem Problem nicht abzusprechen (auch wenn es die typisch dahingestammelte der Mystiker bleibt). Aber wie sind dergleichen Müdigkeiten nun zu schaffen? Sich künstlich wachhalten? Kontinentalflüge unternehmen? Gewaltmärsche? Eine Herkulesarbeit? Sich probeweise aufs Sterben einlassen? Hast du ein Rezept für deine Utopie? Munterkeitszügler für die ganze Bevölkerung in Tablettenform? Oder als Pulver, beigegeben dem Trinkwasser der Quellenhäuser im Unmüden-Land?
    Ich weiß kein Rezept, auch mir selber nicht. Ich weiß bloß: Solche Müdigkeiten sind nicht zuplanen; können nicht im voraus das Ziel sein. Aber ich weiß auch, daß sie nie grundlos eintreffen, sondern immer nach einer Beschwernis, im Übergang, in einer Überwindung. – Und nun laß uns aufstehen und weggehen, hinaus, auf die Straßen, unter die Leute, um zu sehen, ob uns vielleicht in der Zwischenzeit dort eine kleine gemeinsame Müdigkeit winkt, und was sie uns heute erzählt.
    Aber gehört zu dem richtigen Müdesein, ebenso wie zu dem richtigen Fragen das Aufstehen, nicht das Sitzen? So wie jene alte krumme Frau in dem Gastgarten, wieder einmal weitergetrieben von ihrem auch schon grauhaarigen, doch ewig gehetzten Sohn, sagte: »Ach, sitzen wir doch noch!«
    Ja, sitzen wir. Aber nicht hier, in der Menschenleere, im Rauschen des Eukalyptus, allein, sondern am Rand der Boulevards und der Avenidas, im Zuschauen, vielleicht mit einer Jukebox in Reichweite.
    In ganz Spanien gibt es doch keine Jukebox.
    Hier in Linares gibt es eine, eine sehr seltsame.
    Erzähl.
    Nein. Ein andermal, in einem Versuch über die Jukebox. Vielleicht.
    Vor unserem Auf-die-Straße-Gehen nun aber noch ein

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