Versuch über die Müdigkeit
Zwischenzeit. Und in jenen Stunden war Frieden, auch am Central Park. Und das Erstaunliche ist, daß meine Müdigkeit dort an dem zeitweisen Frieden mitzuwirken schien, indem ihr Blick jeweils schon die Ansätze zu Gesten der Gewalt, des Streits oder auch nur einer unfreundlichen Handlung beschwichtigte? milderte? – entwaffnete, durch ein ganz anderes Mitleid als das verächtliche manchmal der Schaffensmüdigkeit: das Mitgefühl als Verständnis.
Aber was war das Besondere an dem Blick? Was bezeichnete ihn?
Ich sah, spürbar für den andern, mit ihm zugleich seine Sache mit: den Baum, unter dem er gerade ging, das Buch, das er in der Hand hielt, das Licht, in dem er stand, auch wenn es das künstliche eines Ladens war; den alten Stenz mit seinem hellen Anzug und seiner Nelke in der Hand; den Reisenden mit seiner Gepäckslast; den Riesen mitsamt seinem unsichtbaren Kind auf den Schultern; mich selbst mitsamt dem aus dem Parkwald wirbelnden Laub; jeden von uns mit dem Himmel zu seinen Häupten.
Und wenn es solch eine Sache nicht gab?
Dann schuf meine Müdigkeit sie, und der andere, der gerade noch im Leeren geirrt war, empfand um sich von einem Augenblick zum nächsten seiner Sache Aura.
Und weiter: Jene Müdigkeit machte, daß die tausend unzusammenhängenden Abläufe kreuz und quer vor mir sich ordneten über die Form hinaus zu einer Folge; jeder ging in mich ein als der genau da hinpassende Teil einer – wunderbar feingliedrigen, leichtgefügten – Erzählung; und zwar erzählten die Vorgänge sich selbst, ohne Vermittlung über die Wörter. Dank meiner Müdigkeit wurde die Welt ihre Namen los und groß. Ich habe dazu ein etwas grobes Bild von vier Verhältnisweisen meines Sprach-Ichs zur Welt: In der ersten bin ich stumm, schmerzhaft ausgeschlossen von den Vorgängen – in der zweiten geht das Stimmengewirr, das Gerede, von draußen, auf mein Inneres über, wobei ich aber noch immer gleich stumm, höchstens schreifähig bin – in der dritten kommt endlich Leben in mich, indem es da unwillkürlich, Satz um Satz, zu erzählen anhebt, ein gerichtetes Erzählen, an jemand Bestimmten meist, ein Kind, die Freunde – und in der vierten dann, wie ich es bisher am nachhaltigsten damals in der klaräugigen Müdigkeit erlebte, erzählt die Welt, unter Schweigen, vollkommen wortlos, sich selber, mir wie dem grauhaarigen Zuschauernachbarn da und dem vorbeiwippenden Prachtweib dort; alles friedliche Geschehen war zugleich schon Erzählung, und diese, anders als die Kampfhandlungen und Kriege, die erst einen Sänger oder Chronisten brauchten,gliederte sich in meinen müden Augen von selber zum Epos, noch dazu, wie mir da einleuchtete, zum idealen: Die Bilder der flüchtigen Welt rasteten ein, eins und das andere, und nahmen Gestalt an.
Ideal?
Ja, ideal: denn es ging darin alles mit rechten Dingen zu, und es passierten Dinge noch und noch, und von nichts war zu viel da, von nichts zu wenig – alles, wie es sich für ein Epos gehört; sich selbst erzählende Welt als sich selbst erzählende Menschengeschichte, so, wie sie sein könnte. Utopisch? »La utopia no existe«, las ich hier auf einem Plakat, was übersetzt heißt: Den Nicht-Ort gibt es nicht. Bedenk das einmal, und die Weltgeschichte fängt sich zu drehen an. Meine utopische Müdigkeit von damals ergab jedenfalls einen Ort, zumindest den einen. Viel mehr Ortssinn fühlte ich da als je sonst. Es war, als hätte ich, obwohl kaum erst da, den Ortsgeruch angenommen in meiner Müdigkeit, sei da alteingesessen. – Und an diesen Ort reihten sich in den ähnlichen Müdigkeiten der folgenden Jahre noch mehr. Auffällig, daß dabei oft Fremde mich Fremden grüßten, weil ich ihnen bekannt vorkam, oder einfach nur so. In Edinburgh, wo ich, nachdem ich über Stunden »Die sieben Sakramente« von Poussin angeschaut hatte, welche Taufe, Abendmahl und dergleichen endlich einmal im richtigen Abstand zeigten, strahlend müde in einem italienischen Restaurant saß und mich so – Ausnahme, zugehörig dieser Müdigkeit – selbstbewußt bedienen lassen konnte, waren am Schluß alle Kellner einig, mich schon einmal, und zwar jeder an verschiedenen Orten, gesehen zu haben: der eine auf Santorin (wo ich noch nie war), der andere im letzten Sommer, mit einem Schlafsack, am Gardasee – weder Schlafsack stimmte noch See. Im Zug von Zürich nach Biel, nach einer Nacht ohne Schlaf zur Schulendfeier der Kinder, saß mir eine ebenso übernächtigte junge Frau gegenüber, die vom
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