Versuch über die Müdigkeit
mit all den schweren, entzündeten Lidern – ein besonderes Merkmal dieser Müdigkeit – wachen Sinnes; jeder die Geistesgegenwart in Person (»Da!« – Ein Apfel wird geworfen – »Hab ihn schon!«); beseelt (immer wieder das mehrstimmige, unwillkürliche, unvermittelte Anheben des Erzählens: »Vor dem Krieg, als die Mutter noch gelebt hat, haben wir sie einmal im Krankenhaus von St. Veit besucht und sind dann in der Nacht die fünfzig Kilometer durch das Trixener Tal zu Fuß nach Hause gegangen …«). Die Farben und Formen jener Bilder vom fragmentarischen Volk der Müdigkeit sind das Blau der Arbeitshosen, die roten Geraden hingeschnalzt von der Richtschnur an den Balken, die roten und violetten oval-zylindrischen Zimmermannsbleistifte, das Gelb der Zollstöcke, das Oval der Luftblase in der Wasserwaage. Die schweißnassen Haare an den Schläfen sind nun getrocknet und bauschen sich; an den Hüten, wieder aufgesetzt, keine Abzeichen, in den Bändern statt des Gamsbarts der Bleistift. Hätte es damals schon ein Transistorradio gegeben, es wäre, so stelle ich es mir jedenfalls vor, dort von den Baustellen ferngeblieben. Und trotzdem ist mir, als käme aus der Helligkeit der jeweiligen Orte etwas wie eine Musik – die der feinhörigen Müdigkeit selbst. Ja: auch jener Augenschein, wieder weiß ich es, war eine heilige Zeit – Episoden des Heiligen. – Zu diesem müden Volk freilich – anders als zu dem an der Dreschmaschine – gehörte ich nicht dazu und beneidetees. Als ich dann aber später, ein Heranwachsender, einmal hätte dazugehören können, wurde das ganz anders als in der Vorstellung des Essensträgers. Mit dem Tod der Großmutter, dem In-die-Rente-Gehen des Großvaters, dem Aufgeben der Landwirtschaft hörte an dem Hof – nicht nur an diesem einen im Dorf – die große Hausgemeinschaft der Generationen auf, und meine Eltern bauten ein eigenes Haus. Bei diesem Hausbau, bei dem jeder in der Familie, bis auf die Kleinstkinder, irgendwie mittun mußte, wurde ich eingespannt und erfuhr so eine ganz neue Müdigkeit. Die Arbeit, die in den ersten Tagen vor allem darin bestand, eine Schiebtruhe vollbeladen mit Quadern bergauf zu der für Laster unzugänglichen Baustelle zu bringen, auf über den Schlamm gelegten Brettern, erlebte ich nicht mehr als unsere gemeinsame Arbeit, sondern als Schinderei. Die Mühsal des langwierigen, stockenden, vom Morgen bis zum Abend wiederholten Bergaufschiebens traf mich mit solcher Wucht, daß ich keine Augen mehr hatte für irgend etwas um mich herum, nur noch vor mich hinstarren konnte, auf diegrauen, scharfkantigen Ziegelbrocken, die auf dem Steg sich wälzenden grauen Zementströme, und vor allem die Übergänge zwischen den einzelnen Brettern, wo ich in der Regel die Karre ein wenig anzuheben oder zu verschieben hatte, um über die Kanten und Kurven zu kommen. Nicht selten kippte die Last da um, und ich mit. In diesen Wochen bekam ich die Ahnung davon, was Fron- oder Sklavenarbeit sein kann. »Ich bin erschlagen«, sagt die Umgangssprache: Ja, ich war am Ende der Tage, nicht nur die Hände wund, sondern auch die Zehen verbrannt von dem zwischen sie gequollenen Zement, in mich zusammengesunken, dahockend (nicht sitzend), erschlagen vor Müdigkeit. Unfähig zu schlucken, brachte ich kein Essen hinunter, und auch sprechen konnte ich nicht. Und das besondere Zeichen dieser Müdigkeit war vielleicht, daß es schien, es gäbe von ihr keine Erholung. Eingeschlafen war man zwar fast auf der Stelle, erwachte aber im nächsten Morgengrauen, kurz vor Arbeitsbeginn, noch schwerer müde als zuvor; als habe die Schufterei alles aus einem entfernt, was zu einem noch so kleinen Lebensgefühl –Empfindung des Frühlichts, des Winds an den Schläfen – gehörte, und zwar für immer; als gäbe es für solches lebendig Totsein ab jetzt kein Ende mehr. Hatte ich vorher bei Unannehmlichkeiten nicht schnell eine Ausrede gefunden, diese und jene Schliche gekannt? Nun war ich sogar zu matt, mich auf die bewährten Weisen – »ich muß lernen, mich aufs Internat vorbereiten«; »ich gehe euch in den Wald Pilze suchen« – zu drücken. Und kein Zuspruch, der etwa aufhalf: Obwohl es doch um meine eigene Sache ging – unser Haus –, ließ von mir keinmal ab die Müdigkeit eines Fremdarbeiters; Müdigkeit, die vereinzelte. (Es gab im übrigen noch mehr solche Arbeiten, die von der Gesamtheit gefürchtet wurden, so das Graben der Wasserleitungsschächte: »Diese Arbeit ist ein Hund,
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