Versuchung Pur
beschlagenen kleinen Spiegel über dem ebenso kleinen Waschbecken sauber. Mit einer Fingerspitze nahm sie etwas von der Gesichtscreme. Einen halben Tiegel hatte sie noch, der würde den Sommer über halten müssen. Wenn sie diesen Sommer durchhielt, würde sie sich zur Belohnung einen neuen Topf kaufen.
Als Eden aus dem Bad kam, war die Blockhütte bereits leer. So, wie sie Candy kannte – was man nach zwanzig Jahren Freundschaft sicher sagen konnte –, war der Rotschopf längst zu den Mädchen gegangen. Wie mühelos ihre Freundin sich doch den Umständen angepasst hat, dachte Eden. Dann ermahnte sie sich, dass es auch für sie höchste Zeit war, sich daran zu gewöhnen. Sie nahm Jeans und ein rotes T-Shirt hervor und zog sich an.
Selbst als Teenager hatte Eden sich selten so lässig gekleidet. Sie hatte ihr Gesellschaftsleben genossen – die Partys, die Skiurlaube in Vermont, die Einkaufstrips und Theaterbesuche in New York, die Reisen nach Europa. Das Konzept, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen zu müssen, hätte sie niemals für sich in Betracht gezogen, ebenso wenig wie ihr Vater. Die Frauen der Carlboughs arbeiteten nicht. Sie saßen diversen Komitees vor.
Das College hatte eher dazu gedient, ihre Erziehung zu vervollständigen, nicht als Grundlage für eine bestimmte Karriere. Und jetzt, im Alter von dreiundzwanzig Jahren, musste Eden sich eingestehen, dass sie über keinerlei Qualifikationen verfügte, um einen Beruf auszuüben.
Sie könnte ihrem Vater die Schuld dafür geben. Doch wie sollte sie einem so nachsichtigen und liebevollen Mann etwas vorwerfen? Sie hatte Brian Carlbough angebetet. Nein. Sie hatte sich selbst die Verantwortung zuzuschreiben. Sie war es, die naiv und kurzsichtig gewesen war! Ihr Vater konnte nichts dafür. Auch ein Jahr nach seinem plötzlichen und unerwarteten Tod saß die Trauer immer noch tief.
Doch damit konnte sie umgehen. Denn wenn sie etwas gelernt hatte, dann ihre Gefühle unter würdevoller Haltung zu verbergen. Eiserne Selbstbeherrschung. Tag für Tag, Woche um Woche würde sie in diesem Sommer mit den Mädchen im Camp und den Betreuerinnen, die Candy angeheuert hatte, zusammen sein. Und keiner von ihnen würde merken, wie sehr sie noch immer um ihren Vater trauerte. Oder welch vernichtenden Schlag Eric Keeton ihrem Stolz zugefügt hatte.
Eric – der vielversprechende junge Banker aus der Firma ihres Vaters, immer charmant, immer aufmerksam. Ein überaus untadeliger junger Mann. In ihrem letzten Jahr im College hatte Eden seinen Ring angenommen.
Es tat immer noch weh. Eden beeilte sich, den Schmerz unter einer ordentlichen Portion Groll zu begraben. Vor dem Spiegel band sie resolut ihr Haar zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammen. Bei dieser Frisur hätte ihren ehemaligen Coiffeur das kalte Grausen ergriffen.
Nun, es ist aber praktisch, sagte Eden trotzig zu ihrem Spiegelbild. Schließlich war Eden Carlbough jetzt eine praktische Frau. Seidiges Haar, das sanft um die Schultern wehte, wäre beim morgendlichen Reitunterricht wohl eher störend. Und genau der stand jetzt auf dem Programm.
Für einen Moment presste sie ihre Hände gegen die Stirn. Warum waren die Morgen immer am schlimmsten? Wenn sie aufwachte, hatte sie oft das Gefühl, aus einem bösen Traum aufzutauchen und wieder zu Hause zu sein. Dabei war die Villa gar nicht mehr ihr Zuhause. Fremde wohnten jetzt dort. Und Brian Carlboughs Tod war kein Albtraum, sondern grausame Realität.
Ein völlig unerwarteter Herzinfarkt ohne jegliche Vorwarnung hatte ihn über Nacht dahingerafft. Bevor Eden Zeit gehabt hatte, den Schock überhaupt zu begreifen, war schon der nächste gefolgt.
Plötzlich waren da überall Anwälte in strengen dunklen Anzügen, die lange und trockene Monologe hielten. Ihre Kanzleien rochen nach altem Leder und frischer Möbelpolitur. Mit ernsten Mienen und verschränkten manikürten Fingern hatten sie Edens Welt zum Einsturz gebracht.
Unüberlegte Investitionen war der Ausdruck, der immer wieder fiel. Schlechte Marktlage, Hypotheken, zweite Hypotheken, Kredite mit kurzer Laufzeit … Nachdem alle Details gesichtet waren, stand fest: Es blieb kein Cent vom Familienvermögen übrig.
Brian Carlbough war ein Spieler gewesen. Zum Zeitpunkt seines Todes hatte er sich inmitten einer Pechsträhne befunden. Ihm war keine Zeit mehr geblieben, seine Verluste wettzumachen.
Seine Tochter sah sich gezwungen, den gesamten Besitz zu liquidieren, um die aufgelaufenen Forderungen begleichen
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