Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
erst mal gar nichts kapiert. Schwerdtfeger auch nicht. Der grinst erst noch, er hat ja kein Wort verstanden. Plötzlich hat mein Vater ein Brecheisen oder einen Wagenheber oder eine Langfeile in der Hand und geht auf Schwerdtfeger los. Ich hab nicht gewusst, ich schwöre, dass mein Vater noch solche Kraft hat. Schwerdtfeger macht, dass er rauskommt. Ich habe meinen Vater erst mal beruhigt. Er ist weg, hab ich ihm gesagt. Wirklich. Er kommt auch nicht mehr wieder. Mein Vater war völlig außer sich. Da, Joe, wusste ich zum ersten Mal, dass etwas mit ihm nicht stimmt.«
»Hatte er das schon mal?«
Jacek dachte nach. »Nein. Nicht so. Ich glaube, als Kind war er mal eine Zeit lang in einem Spital. Meine Mutter hat es mir erzählt, wenn er seine fünf Minuten hatte.«
»Was waren das für fünf Minuten?«
»Von einer Sekunde auf die andere wurde er unendlich traurig. Einfach nur traurig. Er weinte. Das war nicht gut. Ich kannte meinen Vater als starken, beherrschten Mann. Dieses Weinen hat mich völlig aus der Fassung gebracht. Meine Mutter müssten wir fragen. Die wusste mehr über ihn als er selbst. Aber sie ist vor fünf Jahren gestorben. Die Traurigkeit hat ihn dann auch verlassen, jedenfalls für lange Zeit. Und auf einmal bricht etwas auf, und ein riesiger Zorn kommt dazu. Ich weiß nicht, warum. Er kannte diesen Mann doch gar nicht. Trotzdem hätte er ihn beinahe umgebracht.«
»Glaubst du, er hat Schwerdtfeger bei seiner Rückkehr auf dem Friedhof erwischt und ihn in dieser seltsamen Rage getötet?«
Und dass er Marie-Luise fast in die Oder gejagt hat und mich zu Tode erschreckt?
Wieder rieb Jacek sich über die Augen. »Keine Ahnung. Aber wenn er es getan hat, dann hatte er Gründe. Ich kenne sie nicht. Mein Vater ist sanft wie ein Lamm. Vielleicht hat das alles gar nichts mit dem armen Schwein zu tun. Etwas an Schwerdtfeger hat meinen Vater wieder zu dem Kind von damals gemacht.«
»Was ist geschehen?«
»Was?« Verwirrt sah er mich an.
»Als Marek ein Kind war und er in die Klinik musste.«
»Ich weiß es nicht!«, rief er. Dann sagte er ruhiger: »Wir haben nie darüber geredet.«
»Über was nicht?«
Jacek ballte die Faust, bis seine Knöchel weiß unter der sonnenverbrannten Haut hervortraten.
»Über das alles. Die Flucht. Die Vertreibung, wie ihr das nennt. Die Umsiedelung, die Repatriierung. So nennen wir das. Es ist kein Thema. Weder in unserer Familie noch in der Öffentlichkeit. Nur wenn ihr ankommt und das wiederhaben wollt, was uns gehört. Dann wehren wir uns.«
»Keiner will etwas wiederhaben.«
»Ach ja? Dann will ich dir mal erzählen, wie die Sache weitergegangen ist.«
Er stand auf und öffnete einen Einbauschrank, in dem uralte Vorräte und noch älteres Geschirr zu bedenklich instabilen Türmen aufeinandergeschichtet waren. Unter einer Blechdose fand er, wonach er gesucht hatte. Einen Brief. Er reichte ihn mir.
Es war ein Brief von der Rechtsanwaltskanzlei Sinter, Berlin/Krakau. Wie viele Kanzleien hatte Sinter eigentlich noch? Diese hier kümmerte sich um ganz andere Probleme als Reputationsmanagement.
»Doktor Cordt Sinter. Kultur- und Restitutionsrecht, Völkerrecht, Persönlichkeitsrecht. Vertretung von Heimatvertriebenen gegen Vertreiberstaaten«, las ich rechts vom Briefbogen ab.
Jacek spuckte aus. »Vertreiberstaaten. Klingt wie Schurkenstaaten, nicht? Lies. Und dann sag mir noch mal ins Gesicht: Keiner will was wiederhaben.«
Das Schreiben war in Polnisch und Deutsch. »Sehr geehrter Herr Zieliński«, las ich den Teil vor, den ich aussprechen konnte. »Mein Mandant Horst Schwerdtfeger hat uns in Rechtsnachfolge seines verstorbenen Vaters Helmfried Hagen mit der Restitution bzw. Entschädigung des seit neunzehnhundertfünfundvierzig vorenthaltenen Eigentums der Siedlung Johannishagen und den dazugehörigen landwirtschaftlichen Nutzflächen beauftragt. Begründet wird der Restitutionsanspruch mit der Verletzung des Persönlichkeitsrechtes sowie dem Anwendungsbereich der Rehabilitierungsgesetzgebung bei Beschwerden von Personen gleich gelagerter Vertreibungssachverhalte zum EGMR und dem UN-Menschenrechtsausschuss.« Ich ließ den Brief sinken. »Das ist der größte Quatsch, der mir in meiner gesamten Laufbahn jemals untergekommen ist.«
»Erklär das mal den Leuten, die auch so einen Brief bekommen haben.«
Ich las weiter und fasste den Unsinn in meinen Worten zusammen. »Er will, dass Schwerdtfeger sich einen Eindruck vom Erhalt der Bausubstanz machen kann und
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