Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
vorlegen.«
Ich trat zum Fenster und sah hinunter auf den Kurfürstendamm. Ich liebte diese Straße. Sie war bunt, laut, schrill und billig und dann wieder behäbig, bürgerlich und protzend. Man konnte spüren, wie diese Ecke rund um den Olivaer Platz von den Russen profitierte, die sich in großer Zahl in Charlottenburg niedergelassen hatten. In der Leibnizstraße gab es einen Laden mit ausgesuchten kostbaren Ikonen. Manchmal verbrachte ich dort halbe Nachmittage, während mir der Inhaber Sergej Heiligengeschichten erzählte, die denen von Jacek in nichts nachstanden.
»Ich werde eine Aufhebung oder vielmehr eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls beantragen.«
Den Antrag an die Generalstaatsanwaltschaft hatte ich bereits hochgeladen. Ein Auslieferungsverfahren war kein Strafverfahren. Die Schuld des Angeklagten wurde nicht überprüft. Ein Prozess würde klären, ob dieser Rechtshilfe für Polen überhaupt nachgegangen werden durfte. Ich wusste, wie er ausgehen würde. Aber bis es so weit war, konnte ich Marie-Luise wenigstens die Rückkehr nach Berlin ermöglichen und, mit etwas Glück, die Auslieferungshaft ersparen. Polen als EU-Land hielt definitiv die völkerrechtlichen Mindeststandards ein. Sie würde einen Richter, einen Anwalt und rechtliches Gehör bekommen. Drei Jahre vielleicht, nach zwei Dritteln und guter Führung wäre sie wieder draußen. Dafür bekäme Jacek lebenslänglich. So sah es aus. Aber ich würde alles Menschenmögliche in Bewegung setzen, damit es nicht dabei blieb.
»Tun Sie das«, erwiderte Vaasenburg. »Wo ist sie?«
»An einem sicheren Ort. Ich bin nicht zur Offenbarung verpflichtet. Wer hat eigentlich Schwerdtfegers Angehörige vom Tod des Mannes informiert?«
»Ich nicht.«
»Die Schwester lebt in Hamburg, nicht wahr?«
»Schon möglich«, antwortete er, merklich distanziert.
»Hat man die Familie zu den Gründen befragt, warum Herr Schwerdtfeger mit so viel Bargeld nach Polen gereist ist?«
»Das weiß ich nicht.«
»Waren die Kollegen aus Polen denn schon dort?«
»Das weiß ich nicht.«
»Herr Vaasenburg, ich brauche etwas, mit dem ich eine drohende Auslieferung verhindern kann. Frau Hoffmann hat mit dem Mord nichts zu tun.«
»Sie wollen Detektiv spielen? Lassen Sie die Hände davon.«
»Das kann ich nicht. Sie wissen selbst, dass ich nicht viel mehr als eine Verzögerung herausschlagen kann.«
»Das polnische Justizsystem ist hervorragend.«
»Die Ermittler glauben an eine Schuld von Herrn Zieliński und Frau Hoffmann.«
»Glauben …«, wiederholte Vaasenburg, und ich hoffte, er würde mir nicht wieder mit seinen philosophischen Anmerkungen kommen.
»Verdammt, ja! Es gibt Beweise! Doch sie sind nicht stichhaltig! Wenn ich Frau Hoffmann helfen soll, muss ich mehr wissen. Warum ist Schwerdtfeger nach Polen gereist? Was hatte er mit dem Geld vor? Wen hat er getroffen? Konnte er Polnisch? Wie hat er sich verständigt? Er muss Helfer gehabt haben. Es muss noch jemand existieren, der von seiner Reise wusste. Vor allem aber von deren Ziel und Zweck.«
»Zeigen Sie mir die Vollmacht.«
»Kann ich sie faxen?«
Er gab mir eine Nummer und legte auf. Ich öffnete das entsprechende Formular, füllte es aus und setzte, nachdem der Drucker die Bögen ausgespuckt hatte, schwungvoll meinen und krakelig Marie-Luises Namen darunter. Dann ging ich zu Tiffys Schreibtisch und schickte alles an Vaasenburg.
Mein Handy klingelte keine halbe Minute später.
»Bis auf eine Schwester keine lebenden Verwandten. Sie heißt Maria Fellner und lebt ebenfalls in Hamburg. Ortsteil Harburg, Knappenstraße vier c.«
»Danke.« Ich wollte auflegen.
»Herr Vernau?«
»Ja?«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Nur, wenn es meine Mandantin erlaubt und ihr nicht schadet.«
Er schwieg. Ich dachte schon, er würde kommentarlos das Gespräch beenden, dann sagte er: »Ich meinte, wenn es geht … Informieren Sie mich bitte als Ersten. Ich bin für Sie rund um die Uhr erreichbar.«
Er machte sich Sorgen.
»Ich werde daran denken.«
Dann suchte ich die nächste Zugverbindung nach Hamburg heraus und machte mich fluchend auf den Weg zum Hauptbahnhof.
14
Man muss sich die Verkehrssituation in Berlin ein Vierteljahrhundert nach der Wende ungefähr so vorstellen: Wanderbaustellen schleppen sich über wichtige Magistralen. Schlaglöcher werden geflickt, die spätestens im nächsten Frühjahr doppelt so groß wiederauftauchen. Die S-Bahn fährt ebenso zuverlässig und pünktlich wie die
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