Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
wenn der Angriff von hinten erfolgte. Und ich überlegte ein letztes Mal, was es bringen würde, jetzt hinauszugehen an einen Ort, an dem noch nicht einmal die uralten Geister aus aller Herren Länder zur Ruhe kamen. Es war verrückt. Selbst wenn ich jemanden überraschen würde, ich könnte ihn weder fesseln noch in Gewahrsam nehmen. Alles, was ich erreichen würde, wäre, einen Täter in die Flucht zu schlagen.
Dann habe ich immerhin dein Gesicht gesehen. Da draußen ist etwas, das du haben willst. Wenn ich weiß, was es ist, dann weiß ich, warum das alles geschehen ist.
Im Schutz der Dunkelheit verließ ich das Haus. Sie legte sich um mich wie ein Mantel, und die Nacht war auf meiner Seite.
24
Der Wind war kühl, fast schneidend. Der dünne Mond hatte sich wieder hinter den Wolken versteckt. In Janekpolana mussten einige Straßenlampen brennen. Ein schwacher Lichtschein, mehr Ahnung als Gewissheit, schimmerte hinter dem Weinberg. Mareks Haus war dunkel. Ich hoffte, der alte Mann würde schlafen und von den Geistern des Friedhofs in seinen Träumen verschont bleiben.
Die Luft roch nach Pilzen, Moos und Farn, erdig und feucht. Und nach verrottenden Blättern. Ich schlich über das unbefestigte, halbwegs ebene Terrain von Jaceks Haus in Richtung Friedhof. Nach ungefähr zwanzig Metern begann kniehohes Gras zu wuchern, das in niedrige Büsche und Gestrüpp überging. Die ersten Gerten und Zweige konnte ich noch zur Seite schieben, doch ein paar Schritte weiter stand ich vor einer grünen Wand. Vielleicht war sie einmal eine Hecke gewesen. In den vergangenen Jahrzehnten waren die dornigen Zweige ineinandergewuchert und zu einem dichten Geflecht verwachsen. Es gab kein Durchkommen. Ich musste einsehen, dass der einzige Zugang zu dem alten Friedhof vorne an der Straße lag, wo vor der Kapelle ein verrostetes, schief in den Angeln hängendes hohes Gartentor einen knappen Meter breit geöffnet war. Efeu, Stechginster und Kirschlorbeer rankten sich um die eisernen Schmiedespitzen. Nur wenige Stäbe waren noch zu erkennen. Den Rest hatte die Natur verschluckt.
Ich blieb stehen und lauschte. Wenn Marie-Luise die Geräusche im Haus schon unheimlich waren, dann hätte sie spätestens jetzt die Flucht ergriffen. Direkt neben mir raschelte etwas im Laub. Ein dünner Zweig knackte. Ein Luftzug streichelte den Efeu, und die Blätter bewegten sich wie hundert winkende Hände. Vorsichtig tastete ich mich an dem Tor vorbei. Der Oberholm hatte sich an einer Seite gelöst und hing, grotesk verbogen, mitten im Weg. Die verrosteten Ornamente waren zum Teil herausgebrochen, die Füllstäbe sahen angenagt und instabil aus. Eine einzige unachtsame Berührung, und das brüchige Tor würde mitsamt dem Zaun umfallen.
Falls es früher einen Weg gegeben hatte, so war nur noch ein Trampelpfad geblieben. Ich trat ein – und mir stockte der Atem. Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt, doch bei diesem Anblick war es eher ein Nachteil. Ich hatte das Gefühl, auf einem vergessenen Filmset zu stehen. Kreuze und Grabsteine ragten aus der Erde, die meisten zur Seite geneigt, einige bereits umgefallen. Der Boden hatte sich über den Särgen gesenkt, dadurch waren rechteckige, längliche Gruben entstanden. Unter jeder von ihnen ruhte ein Toter. Ich erkannte eine dicke schwarze Platte aus geborstenem Glas. Darauf waren goldene Lettern eingraviert, die ich nicht lesen wollte. Obwohl mir mein Verstand sagte, dass mir hier von den Toten weniger Gefahr drohte als von den Lebenden, war es zu dieser Stunde ein verwunschener, geradezu furchteinflößender Ort.
Als ich weiterging, verlor sich der Trampelpfad. Langsam begriff ich, was Marie-Luise auf ihrer Flucht durchgemacht hatte. Das dichte Gestrüpp und die zerbrochenen Steinumrandungen machten es unmöglich, zwischen einem Weg und einem Grab zu unterscheiden. Die Sarggruben mussten für eine Fliehende wie Fallen gewesen sein.
Sie ist über Gräber gelaufen.
Um ein Haar wäre ich in einen knöchelhohen Eisenzaun getreten. Es war ein Irrgarten. Ein Labyrinth. Ich sah hoch. Keine zehn Meter entfernt erhob sich ein großer, massiver Schatten aus der Dunkelheit. Die Kapelle.
Es war ein kleiner Bau. Schlicht, mit einem von Moos und Flechten überwucherten Ziegeldach. An der Vorderseite befand sich ein winziger Glockenturm ohne Glocke. Die Holztür war geschlossen.
Ich rührte mich nicht vom Fleck und wartete darauf, dass sich aus den Geräuschen etwas herausfiltern ließ, von
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