Versunkene Gräber - Roman
vererbt. Das sei nicht erlaubt, hatte sie gesagt, deshalb dürfe das auch niemand wissen.
Hatte sie da schon geahnt, dass ihre Mutter gelogen hatte? Nein. Alles war in Ordnung gewesen, und sie hatte geglaubt, vor Glück zu platzen, als sie bei Kaminskis Gebrauchtwagen einen kleinen Smart entdeckt hatte. Sie wusste noch, wie sie nach Hause gestürmt war, lachend, überglücklich, und dann war ihr Vater ihr aus dem Wohnzimmer entgegengekommen, und sie hatte sofort gewusst, dass etwas Schlimmes passiert war.
In all den Kummer und Schmerz war diese verfluchte Anwältin geplatzt und hatte ihren Vater derart in die Enge getrieben, dass er Dinge erzählt hatte, die nicht wahr sein konnten. Hatte geschickt irgendwelche Fangfragen gestellt, bis ihr Großvater, ihr eigener Großvater, behauptet hatte, Mama wäre eine Diebin gewesen. Eine Erpresserin. Und das Geld, das ganze Geld, war weg. Zurück blieb der Scherbenhaufen, den Lügen anrichteten.
Die Anwältin hatte die policja gerufen, und ganz Cigacice war an den Fenstern gewesen und hatte zugesehen. Die Männer hatten das Geld eingesackt, und dieser Kommissar, dem sie nur deshalb widerspruchslos gehorcht hatte, weil er kaum älter war als sie, hatte sie und ihren Vater am Montag nach Zielona Góra vorgeladen.
Mutter hatte nichts anderes getan, als diese verfluchten Briefe loszuwerden. Das war Finderlohn. Ihr Finderlohn! Für dieses wirre Zeug, das ein Nazi auf der Flucht zusammengeschmiert hatte und das siebzig Jahre lang gut versteckt hinter der Bettwäsche darauf gewartet hatte, endlich in die richtigen Hände zu kommen. Wahrscheinlich hatten sich seine Angehörigen gefreut, nach so langer Zeit endlich etwas über ihn zu erfahren. Diese Scheißnazis. Ihre Mutter hatte nichts Unrechtes getan. Sie hatte niemanden erpresst, sie hatte nichts gestohlen. Sie war die ehrlichste, liebevollste Mutter, die man sich vorstellen konnte.
An diesem Punkt angelangt drohte der Kummer Lenka zu überwältigen. Sie drückte den Pullover vor den Mund und brüllte einen dumpfen Schrei hinein, krümmte sich zusammen und wurde vom Weinen geschüttelt. Irgendwann beruhigte sie sich wieder. Sie stand auf und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken.
Der Regen hatte aufgehört. Die Nacht hatte sich über die Odra gesenkt. Die Boote lagen sacht schaukelnd am Ufer, als wäre der Fluss eine Mutter und würde sie in ihren Armen wiegen. Ein Gedanke, bei dem Lenka erneut die Tränen in die Augen stiegen. Nie wieder würde sie Krystynas Stimme hören. Nie wieder ihre hastigen Ermahnungen, bevor sie das Haus verließ, um zehn lange Tage in Berlin zu arbeiten und alten Deutschen die Schnabeltasse zu halten. Sie hat hierhergehört, dachte das Mädchen. Zu uns. Aber da war das Auto, das sie sich gewünscht hatte. Und Tom träumte von einer Vespa, einer himmelblauen Vespa. Wahrscheinlich war er schwul, ihr kleiner Bruder. Sie hatte ihn noch nie mit einem Mädchen gesehen. Außerdem wollten sie dieses Jahr in den Urlaub. Ein letztes Mal alle gemeinsam, bevor die Kinder aus dem Haus waren. Nicht nach Ł eba auf einen engen Campingplatz, sondern nach Rhodos oder Mallorca oder Scheißwasdrauf. Es würde diesen Urlaub nicht geben.
Sie setzte sich mit dem Glas in die Essecke. Noch eine Erinnerung an Krystyna, die diese Eckbank und den Tisch auf Raten gekauft hatte. Wer würde sie jetzt bezahlen? Wie würde überhaupt alles weitergehen? Der Sommer war noch nicht vorbei, aber Michal hatte schon das Schild » Nieczynny – Geschlossen« am Verleih aufgehängt. Diese Anwältin hatte alles kaputtgemacht. Dies war ein Haus der Trauer, und sie marschierte herein und erzählte etwas von Schuld und Sühne und Recht und Unrecht. Ihre Mutter hätte das Geld zu Unrecht genommen, von Angehörigen des Mannes, den sie gepflegt hatte. Was war daran unrecht?
Den letzten Brief hatte sie auch noch mitgenommen. Lenka versuchte, sich daran zu erinnern, was darin gestanden hatte. Der Nazi war entdeckt worden. Er hatte geahnt, dass seine Zeit nun gekommen war, oder so ähnlich. Die Schnitter kommen, hatte diese Kuh übersetzt. Und dass sein Vermächtnis immer noch im Weinkeller sei, aber niemand es finden würde, der nicht den Schlüssel dazu hätte.
Lenka interessierte sich nicht dafür, was den Nazi sonst noch gequält hatte. Ermahnungen an die Kinder, brav und gehorsam zu sein. Der Mutter helfen, immer schön beten und den Vater nicht vergessen und so weiter und so fort. Sie wusste auch nicht, warum die Anwältin
Weitere Kostenlose Bücher