Versunkene Gräber - Roman
komplett wahnsinnig vor.
»Nein!«, heulte sie wie ein Junkie, der aus Versehen sein Dope ins Klo geschüttet hatte. Sie fand einen Flaschenboden, in dem noch ein Rest Wein übrig war, und wollte ihn zum Mund führen.
In den Büschen flammten Scheinwerfer auf, ein Dutzend Männer mit Sturmhauben und Maschinengewehren bellten heisere Befehle, von denen ich keinen einzigen verstand. Im Bruchteil einer Sekunde fand ich mich auf dem Bauch liegend, einen Gewehrlauf zwischen den Schulterblättern und einen schweren Stiefel im Rücken, und wagte nicht, mich auch noch einen Millimeter zu rühren. Den anderen ging es genauso. Hinter dem Kutscherhaus kamen zwei Männer hervor. Der eine war jung und trug eine polnische Polizeiuniform, der andere war Vaasenburg. Er sagte etwas zu dem Mann, der daraufhin seinen Leuten ein Zeichen gab. Ich spürte, wie der Gewehrlauf zurückgezogen wurde.
Meine Hand glühte vor Schmerz. Dagegen war die Wunde am Kopf lächerlich.
»Na, da sind wir ja gerade noch rechtzeitig gekommen.« Vaasenburg ging in die Knie und beobachtete aufmerksam, wie ich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, ohne meine rechte Hand zu belasten.
»Wo sind die anderen?«, fragte ich. »Marie-Luise? Zuzanna? Das Kind?«
»Alle in Sicherheit. Aber es war etwas schwierig, sie davon abzuhalten, den Weinberg zu stürmen.«
John wurde in Handschellen weggeschleift. Das blonde Haar hing ihm in die Stirn. Er sah nicht zurück. Ganz im Gegensatz zu Nicky, die heulend abgeführt werden musste und dauernd versuchte, sich die Hände abzulecken.
»Wir mussten auf John Camerers Geständnis warten, und ich habe gehofft, dass Sie ihn in ihrer penetranten Art dazu bringen würden, den Mord an Krystyna Nowak zu gestehen. Jacek Zieliński hat Kommissar Krajewski informiert, dass ein Überfall auf ihn geplant ist. Ich habe mit den Kollegen in Zielona Góra über Nowak und Hagen gesprochen. Krajewski hat mich eingeladen, bei der Festnahme dabei zu sein. John und Veronika Camerer werden sich wegen Mordes an Krystyna Nowak vor einem polnischen Gericht verantworten müssen. Da wird ihnen ihr Anwalt auch nicht helfen können. Tut es sehr weh?«
Ich konnte die Finger nicht mehr bewegen. »Gebrochen. Nichts Ernstes.«
Zwei maskierte Typen halfen Jacek auf die Beine.
Ich deutete auf den Scherbenhaufen. »Zwölf Flaschen Yquem! Bist du wahnsinnig?«
Er lachte hustend und hielt sich die Hand an die Stelle auf der Brust, wo er getroffen worden war. »Das war Aprikosenschnaps mit Weißwein vom Supermarkt, du Idiot. Ich hab sie heute Nacht ausgetauscht, nachdem ich das Versteck gefunden hatte. Alle Welt wusste, dass es diese verfluchte Hochzeitskiste vom ersten Hagen mal gegeben hat. Aber dass sie wirklich den Krieg überlebt hat …«
Er hustete wieder. Ich wollte ihn stützen, aber er hob die Hand und wollte allein gehen, dann brach er zusammen.
»Einen Krankenwagen!«, schrie ich. »Einen Arzt!«
Ich kniete neben ihm. Er war bleich wie der Tod. Jemand stieß mich zur Seite und riss ihm das Hemd auf. Ich stolperte weg und beobachtete fassungslos, wie mit jedem rasselnden Atemzug mehr Leben aus ihm wich. Blutiger Schaum trat vor seinen Mund. Er schlug noch einmal die Augen auf. Sein Blick suchte mich, und als er mich gefunden hatte, lächelte er mir zu. Den Rest beobachtete ich wie unter einer riesigen Glasglocke.
Ich wusste nicht, wie lange sie ihn reanimierten. Irgendwann kam ein Hubschrauber, Jacek wurde auf eine Trage geschnallt und im Laufschritt hineingeschoben. Zuzanna musste von ihm weggezerrt werden. Sie weinte, zitterte, schrie seinen Namen, und Marie-Luise hielt sie und Alicja umklammert, ließ sie nicht mehr los.
Schließlich setzte ich mich auf die Stufen vor dem Haus und wartete darauf, dass alles vorübergehen würde. Jemand verband mir die Hand und sagte, ich müsse zum Arzt. Ich glaube, es war Vaasenburg, denn ich erinnerte mich, dass er unsere Aussage erst zu einem späteren Zeitpunkt haben wollte. Der Hubschrauber hob ab, flog eine Schleife, und der Wind drückte das Gras am Ufer der Oder flach, sodass man das andere Ufer sehen konnte und das Nachglühen eines längst vergangenen Abendrots. Die Polizei hatte das Gelände abgeriegelt, trotzdem kamen immer mehr Leute aus Janekpolana, um zu sehen, was in der osada geschah.
Irgendwann stand ich auf und ging ins Haus. Es war schon dunkel, als Marie-Luise zu mir kam und sich neben mich auf Jaceks Bett legte, um bei mir zu sein, wenn die Schatten der Nacht sich mit den
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