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Versunkene Gräber - Roman

Versunkene Gräber - Roman

Titel: Versunkene Gräber - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Nachthemd, sonst nichts. Es ist verrutscht und offenbart, dass es sich bei diesem Patienten um eine Frau handeln muss. Fast zu viel der Mühsal, diese Erkenntnis. Soso. Kein kleiner Häwelmann zwischen den Beinen. Gar nichts. Nackt ist sie unter dem Krankenhausfähnchen.
    Kalt ist es, obwohl die Sonne durch das alte Fenster scheint. Alles dreht sich, zum Kotzen ist das, zum Kotzen. Sie hat am Fußende eine abgenutzte Petrischale gesehen. Als der Würgereiz wenig später zu stark wird, spuckt sie in den Napf. Die Patientin mit dem Buch sieht kurz zu ihr herüber und fragt etwas, aber sie kann die Frau nicht verstehen.
    »Wo … wo bin ich?«
    Ihre Stimme klingt fremd. Sie hat das Gefühl, dass sie anders reden müsste. Klarer, nicht so krächzend und abgehackt. Etwas ist mit ihrem Kopf geschehen. Sind das ihre Hände? Ihre Füße? Sie bemerkt mehrere blaue Flecken an den Oberschenkeln und blutverkrustete kleine Schnittwunden, als wäre sie barfuß über eine Bahnböschung gekrochen.
    Die Frau mit dem Buch sagt ein paar Worte zu dem Mädchen am Fenster. Das wirft ihr daraufhin einen müden Blick zu. Es ist fünfzehn oder sechzehn, ein bleicher Teenager mit flachsblonden, dünnen Haaren.
    »Paulina«, sagt das Mädchen. »Und wer bist du?«
    Sie öffnet den Mund und will antworten, aber ihr fällt ihr Name nicht ein. Verflucht. Kann das sein?
    »Was ist passiert?«, fragt Paulina. Ihr Deutsch hat einen leichten Akzent.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Wie heißt du?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Ich weiß es wirklich nicht.
    »Wo bin ich?«
    Paulina wechselt ein paar Worte mit der Bücherfrau. Die zuckt nur mit den Schultern.
    »Du bist im Szpital Kliniczny in Poznań. Ein Unfall?«
    »Ich …« Ich weiß es nicht, wollte sie sagen. »Ja.«
    Die Tür wird aufgerissen. Eine Krankenschwester mit einem Klemmbrett tritt ein. Sie trägt eine Brille mit altmodischer Hornfassung und einen Kittel, der für ihre gedrungene Figur zu eng und zu lang ist und den sie deshalb offen lässt. Ihr Haar steckt unter einer Haube. Herrisch blickt sie sich um und durchmisst dann den kleinen Raum mit wenigen Schritten, bis sie vor dem Bett des Neuankömmlings steht. Sie fragt etwas, wiederholt es, erkennt schließlich, dass die Frau mit dem Kopfverband offenbar nicht ihre Sprache spricht.
    Paulina antwortet, es entspinnt sich ein kurzer Dialog zwischen dem dünnen Mädchen und dem Dragoner. Der Tonfall ist ärgerlich, auf beiden Seiten.
    »Was sagt sie?«
    Mühsam steht Paulina auf, sucht mit den Füßen nach einem Paar ausgetretener Schlappen, schlüpft hinein und tastet sich an der Reling ihres Bettes hinüber zum Bett der Frau ohne Gedächtnis.
    »Die Schwester will wissen, wie du heißt. Sie müssen die Personalien aufnehmen.«
    Neugierig mustert sie die Frau im Bett. Vielleicht erwartet sie, dass das Auftauchen einer Respektsperson – zumindest hält sich die Krankenschwester zweifellos für eine – dem Gedächtnis auf die Sprünge hilft. Nichts da. Das Hirn hat eigene Pläne.
    »Ich. Weiß. Es. Nicht.«
    Paulina übersetzt. Die Schwester runzelt die Stirn und kritzelt etwas auf das Klemmbrett, das sie wie einen Schild vor der Brust hält.
    »Kannst du sie fragen, was passiert ist? Wie bin ich hierhergekommen?«
    Wieder redet Paulina, die Schwester knurrt unwirsch ein paar Sätze und klopft mit dem Stift auf das Brett.
    »Du hast was am Kopf«, sagt das Mädchen. »Man hat dich am Ufer der Odra gefunden. Im Schilf.«
    »Wo?«
    »Gdzie?« , übersetzt Paulina.
    Die Schwester antwortet. Man kann ihr ansehen, dass sie dieses Gespräch für Zeitverschwendung hält, solange die leeren Zeilen auf dem Aufnahmebogen nicht ausgefüllt sind.
    »In der Nähe von Cigacice, das ist auf dem Weg von Zielona Góra zur A 2 Richtung Poznań. Ein Lkw-Fahrer hat dich gefunden und mitgenommen. Unterwegs hat er dann gemerkt, dass mit dir was nicht stimmt. Bist du überfallen worden?«
    Wie zum Teufel bin ich nach …
    »Wo?«
    »Cigacice«, wiederholt Paulina geduldig.
    … nach Cigacice gekommen? Was wollte ich da? Was ist das für ein Kaff? Und warum bin ich jetzt in einem Krankenhaus in Posen?
    »Meine … Kleider?«
    Die Schwester ist mit ihrer Geduld am Ende. Sie antwortete nur noch knapp auf Paulinas Frage.
    »Voll Dreck. In der Wäscherei.«
    »Und meine Schuhe?«
    Die Stiefel. Siebenmeilenstiefel. Zauberstiefel. Fluchtstiefel. Wo sind sie hin?
    »Jak się Pani nazywa?«
    »Wie heißt du? Sie braucht einen Namen«, flüstert Paulina. »Sag ihr einen.

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