Versunkene Gräber - Roman
sieben saß ich immer noch allein an meinem Tisch, vor mir ein Glas schlesisches Bier, misstrauisch beäugt von dem Kellner, der an den anderen Tischen bereits die Vorspeisen serviert hatte und wahrscheinlich befürchtete, durch mich aus dem feinjustierten Rhythmus der Speisenfolge herausgerissen zu werden.
Um kurz vor sieben – die anderen Tische bogen sich unter Fleischspießen, in gebackenen Brotlaiben serviertem Bigos, gewaltigen Mengen an Pierogi und Schüsseln mit Ś mietana und Roter Bete – hatte ich das zweite Bier auf leeren Magen hinter mir und machte mich mit mehreren unangenehmen Gedanken vertraut. Zuzanna hatte mich versetzt, und ich konnte in diesem Zustand nicht mehr Auto fahren. Der Kellner verstand weder Englisch noch Deutsch und antwortete auf meine Frage nach einem Hotel immer wieder mit »Kubus, Kubus«. Worauf ich mir ein drittes Bier bestellte, das er missbilligend servierte.
» Dobry wieczór – Guten Abend.«
Zuzanna war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Ich hatte sie nicht kommen sehen. Ich wusste auch nicht, ob sie schon lange vor meinem Tisch gestanden und auf mich herabgeblickt hatte. Sie überlegte wohl, ob sie gleich wieder gehen oder das Risiko einer Unterhaltung auf sich nehmen sollte.
Sie trug ein graues Kostüm mit einer weißen Bluse, der Rock war zerknittert wie nach einer langen Autofahrt. Ihr dunkles Haar war in der Mitte gescheitelt, einige Strähnen hatten sich aus dem kleinen Knoten gelöst. Wenn sie Make-up getragen hatte, so war es im Lauf des Tages verschwunden. Nur unter den Augen, die gerötet und müde wirkten, lagen schwarze Schatten, wahrscheinlich hatte sie sie zu oft gerieben. Viele Mandanten unter Mordanklage hatte sie noch nicht vertreten. Sie erinnerte mich an meine Anfangszeit. Jeder Fall war eine persönliche Herausforderung gewesen, jeder Mandant hatte mir nähergestanden als meine eigene Familie. Ich hatte mir die Tragödien anderer zu eigen gemacht. Es brauchte Zeit, Jahre, Jahrzehnte manchmal, um jenen Abstand zu gewinnen, den Außenstehende als Mitleidlosigkeit verurteilten.
Aber es gab auch das Gegenteil. Wenn man von der Unschuld seines Schützlings nicht überzeugt war. Wenn man verachtete, was er getan hatte. Sich innerlich abwandte, ihm nie die Hand gereicht hatte. Einem die Tat, der Täter zuwider war und man ihn trotzdem verteidigen musste. Dafür gemieden und geschmäht, verachtet und beschimpft wurde. Kindermörder. Geiselnehmer. Vergewaltiger. Man brauchte diesen Panzer. Zuzanna hatte ihn noch nicht. Doch sie versuchte, alle glauben zu machen, dass sie ihn hätte. Ich wollte wissen, wie sie zu Jacek stand.
»Guten Abend.« Ich erhob mich und bot ihr den leeren Stuhl gegenüber an. Mir war bekannt, dass man in Polen ausgesprochen höflich zu Damen war. »Bitte nehmen Sie Platz. Haben Sie schon etwas gegessen?«
Sie stellte ihre Aktentasche auf den Boden und sah sich flüchtig um. Die Radfahrer musterten uns unverhohlen. Ihnen war aufgefallen, dass ich ein Landsmann war, der sich mit einer hübschen jungen Frau verabredet hatte. Das gab Zunder im fünften Gang bergauf.
»Danke.«
Sie setzte sich. Der nervöse Kellner war in Windeseile mit einer aufgeklappten Speisekarte bei ihr, die sie ungelesen schloss und etwas bestellte, das nicht mehr als ein Glas Mineralwasser war. Das verstand sogar ich.
»Wo ist Frau Hoffmann?«, fragte sie.
»Ich habe keine Ahnung. Bitte machen Sie sich mit dem Gedanken vertraut: Sollte sie auf dem Gebiet der Bundesrepublik festgenommen werden, werde ich sie vertreten. Eine Auslieferung kommt nicht infrage.«
Sie schluckte. Dann nickte sie. »Offene Karten?«
»Offene Karten. Ich weiß nicht, wo sie ist, und mache mir große Sorgen um sie.«
Zuzanna fixierte mich mit ihren müden braunen Augen. »Wir müssen sie finden. Sie war in der Tatnacht bei Herrn Zieliński. Zudem hat sich herausgestellt, dass ihre Fingerabdrücke …«
»Ich bin informiert.« Es war wichtig, ihr von Anfang an klarzumachen, dass ich ein ebenbürtiger Verhandlungspartner war. Sie wusste mehr als ich. Mehr als Vaasenburg. Sie hatte Einblick in die Ermittlungen. Den wollte ich auch. Ich hatte nichts in der Hand, nur: So durfte ich nicht auftreten.
»Ich habe keine Ahnung, wie das geschehen konnte. Aber ich weiß, dass weder Frau Hoffmann noch Herr Zielińksi ein Gewaltverbrechen verübt hat.«
»Also der geheimnisvolle Unbekannte?«
Sie lächelte mich spöttisch an. Ich nickte widerstrebend.
»Wurde in diese Richtung
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