Versunkene Gräber - Roman
Hoffmann hatte in letzter Zeit finanzielle Schwierigkeiten.«
»Das stimmt nicht«, log ich.
»EV, IA, VB«, zählte sie auf.
Eidesstattliche Versicherung, Insolvenzantrag, Vollstreckungsbescheid. Frau Anwältin schien Freunde bei der deutschen Schufa zu haben. Ihr Handy klingelte. Zufrieden mit der Verwüstung, die sie in mir angerichtet hatte, nahm sie das Gespräch an.
Während ich beobachtete, wie ihr Gesichtsausdruck konzentriert und verschlossen wurde, ahnte ich, dass zumindest Jacek bei ihr in guten Händen war. Sie würde alles tun, um ihn zu entlasten – und das ab sofort nur noch auf Kosten von Marie-Luise.
Ich dagegen konnte nichts tun. Mir waren die Hände gebunden. Ich durfte als Anwalt nicht in Polen arbeiten, noch nicht einmal als solcher auftreten. Zuzanna war meine einzige Chance, wenigstens etwas über den Tatverdacht und den Stand der Ermittlungen zu erfahren. Dass sie von Anfang an klargemacht hatte, wie wenig sie von mir hielt, erleichterte die Sache nicht.
Sie runzelte die Stirn, stellte eine Frage, stand auf und verließ den Raum. Ich konnte nicht mehr hören, was sie sprach. Das Stimmengemurmel, die Schreie der Papageien und der Lärm, der aus der Küche hinaus in das Restaurant drang, verwoben sich zu einem verzerrten Klangteppich. Um mich herum ging das Leben weiter. Die Menschen aßen und tranken. Es wurde Abend. Über dem hohen Glasdach wölbte sich ein tiefdunkelblauer Sommernachtshimmel. Ich würde nicht mehr nach Berlin fahren können. Vielleicht wusste Zuzanna ein Hotel … vielleicht wohnte sie auch hier in der Nähe … vielleicht fanden wir eine Bar und konnten über andere Dinge reden … vielleicht … Unter normalen Umständen hätte ich den Gedanken vertieft. Doch solange es kein Lebenszeichen von Marie-Luise gab, ging das nicht.
Bisher gab es nur einen Toten und einen alten Freund, der sich an nichts mehr erinnern konnte oder wollte. Ich musste mit Jacek reden. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mir Zutritt in die Haftanstalt verschaffen konnte. Aber irgendeinen Weg musste ich finden. Ich konnte Jaceks Verteidigung unmöglich allein Zuzanna überlassen. Das wäre Marie-Luises Untergang.
Die Zeit bis zur Rückkehr der Anwältin nutzte ich, um Tiffy eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Ich hatte am nächsten Tag nur zwei Termine, die sie hoffentlich verschieben konnte. Ich ging davon aus, dass Marie-Luise innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden auftauchen würde. Die meisten Vermissten taten das. Oder sie meldeten sich zumindest und erklärten, warum sie untergetaucht waren. Die meisten.
Zuzanna kehrte zurück, beherrscht, doch mit dem flackernden Blick der Jägerin, die ihre Beute ins Visier genommen hatte.
»Was ist?«, fragte ich. »Haben Sie Neuigkeiten von Frau Hoffmann?«
Sie schüttelte den Kopf und gab dem Kellner ein Zeichen, dass sie zahlen wollte.
»Nein. Aber im Krankenhaus von Poznań wurde heute Morgen eine Patientin eingeliefert, auf die ihre Personenbeschreibung passen könnte. Verwirrt und desorientiert.«
»Was werden Sie tun?«
»Abwarten, bis sie identifiziert ist. Das Daktylogramm kann nicht so lange dauern.«
Ihr Vertrauen in den Lauf der Dinge verschaffte mir Zeit. Trotzdem war ich von einer Sekunde auf die andere auf Flucht gepolt. Ich musste mir diese Unbekannte ansehen. Wenn es Marie-Luise war, hatte ich die Chance, als Erster mit ihr zu reden. Ich holte einen Geldschein aus der Hosentasche, reichte ihn dem Kellner und winkte ab, als dieser protestieren wollte.
»Stimmt so«, sagte ich ungeduldig.
Er redete weiter auf mich ein.
»Er will Zloty, keine Euro.« Zuzanna hatte wieder diesen Ausdruck im Gesicht, als hätte ich sie persönlich beleidigt.
»Keine Euro? Warum denn nicht?«
»Weil der Zloty bei uns nach wie vor die gültige Währung ist.«
»Hoffentlich nicht mehr lange«, entgegnete ich.
Zuzanna zahlte, ich steckte mein Geld ein. Sie stand auf, und ich folgte ihr, als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre.
Draußen im Foyer bekam sie einen leichten Staubmantel von der Garderobiere. Sie ließ zu, dass ich ihr hineinhalf. Aus der Manteltasche holte sie eine schmale Packung Zigaretten hervor.
»Informieren Sie mich, sobald Sie mehr wissen?«
Sie sagte nichts. Trat hinaus vor die Glastür, wartete aber, bis ich bei ihr war und ihr Feuer geben konnte. Die Zigarette war weiß und unglaublich dünn.
»Warum sollte ich das tun?«, fragte sie schließlich.
»Weil Sie Anwältin sind und
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