Versunkene Gräber - Roman
so klein, dass er die Bücher mit ausgestrecktem Arm vom Schreibtisch aus erreichen konnte.
»Nimmt sich nichts. Das dürfte hüben wie drüben das Gleiche sein … Raubmord?« Er wurde ernst. »Ich würde für niemanden die Hand ins Feuer legen, das weißt du. Schon gar nicht für Marie-Luise. Ich halte sie durchaus für fähig, einen kräftigen Mann einen Kopf kürzer zu machen. Wenn sie ihn im Bett einer anderen erwischt hat. Aber Geld? Geld und Marie-Luise? Das passt nicht zusammen.«
Ich war unendlich erleichtert. Insgeheim hatte ich Marquardt misstraut. Er war ein loyaler … nun, Freund wäre zu viel gesagt. Kollege. Ein freundschaftlich verbundener Kollege aus Studienzeiten. Es tat gut zu hören, dass er, was die Einschätzung der katastrophalen Lage anging, auf meiner Seite stand.
Er bückte sich und öffnete die Tür eines Rollcontainers unter dem Schreibtisch. Dahinter verbarg sich ein Campingkühlschrank. Er holte zwei Flaschen Bier heraus und öffnete sie mit einer einzigen geschickten Handbewegung.
»Wo steckt sie jetzt? Nein, sag’s nicht. Je weniger ich weiß, umso besser. Prost.« Wir stießen an. Dabei fiel sein Blick auf den Monitor. »Jeden Abend nehme ich mir vor zu arbeiten. Aber kaum sitze ich hier, schlafe ich ein. Ich hab wirklich alles versucht. Kaffee. Musik. Dreieckskissen. Ich hab sogar überlegt, einen Wünschelrutengänger zu holen.«
»Einen Wünschelrutengänger.«
»Ja. Vielleicht verläuft hier eine Wasserader.«
Ich hatte eher den Verdacht, es hing mit der Alternative zusammen: kuschlige Abende auf der Couch mit Marion.
»Wie lange arbeitest du jetzt schon an der zweiten Version?«
»Vier Jahre.«
»Gib es auf.«
»Geht nicht. Ich hab es überall rumerzählt.«
»Manche Leute arbeiten morgens.«
»Fitnessstudio.«
»Leg das auf abends. Einschlafen auf dem Crosstrainer fällt schwer.«
»Ja.« Er starrte gedankenverloren auf das Standbild.
»Camerer. Sagt dir der Name etwas?«, fragte ich.
»Hmmm«, bejahte er nachdenklich. » Präzision aus Leidenschaft . Kettensägen und Rasenmäher glaube ich. Hatten die nicht mal ein Werk in Berlin? Warum?«
»Ich suche ihren Anwalt.« Ich nahm an, bei den Camerers verhielt es sich so wie bei allen anderen Snobs mit Hang zum italienischen Adel: Ihre Rechtsvertreter betreuten auch die angeheirateten Familienprobleme.
Marquardt trank. Dann stellte er die Flasche ab und griff zu einem Karteikartenroller. Dieses heutzutage antiquiert anmutende Utensil leistete auch mir noch hervorragende Dienste. Nicht jeder Kontakt eignete sich dazu, ihn auf Computerlaufwerke zu bannen. Er zog eine Visitenkarte heraus, die vermutlich noch von Zenas Crane persönlich in Kupfer gestochen worden war.
»Frommen, Engelhardt, Sinter, Hamburg, Berlin«, las ich. »Cordt Sinter. Erbrecht, Familienrecht, Ligitation, Reputationsmanagement und Prävention. Was heißt das?«
»Er sitzt im Brunnen und fängt das Kind auf. Zieht hinter den Kulissen die Strippen. Verhindert schlechte Berichterstattung, lanciert Medienberichte, versucht, die Öffentlichkeit zu manipulieren. Erinnerst du dich noch an Anastasia?«
»Die letzte Zarentochter?«
»Die Sechsjährige, die sich mit einer Kettensäge vier Finger abgetrennt hat. Die Dinger hatten eine mangelhafte Kindersicherung. Jeder normale Fabrikant wäre noch auf dem Gerichtsflur gelyncht worden. Sinter hat der Familie des Mädchens eine sechsstellige Summe geboten. Daraufhin haben sie die Klage zurückgezogen.«
»Das geht doch gar nicht.«
»Geht nicht gibt’s nicht. Sinters Wappenspruch. Er hat damals auch die Geschichte mit dem Kettenwerk in Pakistan gedreht. Es gab Gerüchte, dort würden Zulieferteile für Panzer gefertigt. Reine Spekulation, nachdem er sich reingehängt hat … Was hast du mit den Camerers zu schaffen? Es gibt kaum eine Familie, die so zurückgezogen lebt wie sie. Der eine Aldi vielleicht noch. Keine Fotos, nichts, was nach draußen dringt.«
»Der Sohn soll geheiratet haben. Eine italienische Prinzessin.«
»Keine echte«, brummte Marquardt. »Eine bürgerliche Geschiedene, die sich vorher einen palagonischen Greis geangelt und ihn ins Grab gevögelt hat. Das gilt nicht. Ihr Mann John Camerer hat nichts mit dem Unternehmen zu tun. Er hat sich auszahlen lassen, und es wird nicht lange dauern, bis er auch die letzte Million unter die Leute gebracht hat. Er ist das schwarze Schaf der Familie, und er mag diese Rolle. Solange er noch das Geld hat, sie entsprechend auszufüllen. Der
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