Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Versunkene Inseln

Versunkene Inseln

Titel: Versunkene Inseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marta Randall
Vom Netzwerk:
als Greville durch den Zugangsschacht herabschwebte, gefolgt von goldener Perfektion; man ist fasziniert von der Schönheit und dem Fremden, eine Faszination, die sich nicht auf Liebe oder Haß gründet, sondern allein auf die Präsenz selbst, wie Magnet und Eisenspäne – man kann seinen Blick nicht mehr abwenden), erschrak er, wurde blaß, riß die Augen auf und ballte die Fäuste. Und ich suchte Trost in meinem Sarkasmus und sagte mir, es sei die typische Reaktion, nur eben stärker. Aber – genauso sterblich wie ich? Tobias? Ist er damals aus diesem Grund wie erstarrt stehengeblieben, von meinem Schicksal in gleichem Ausmaß fasziniert wie ich beschämt von seiner Schönheit? Nein, dieser goldene Junge war nicht mein Sohn.
    Hat er seine Zukunft in mir gesehen? Hat er das damit gemeint? Warum war er so voller Haß?
    Ein weinendes Kind im Grasland Südafrikas, ein Kind, das wie benommen und erschrocken die Straßen von einem Dutzend Städte durchwandert, von Planet zu Planet flieht und in seinen Spiegelbildern nach den faltigen und runzligen Brandmalen des Alterns sucht. Tobias? Aber ich war nie so schön wie er. Und er war nicht mein Kind.
    Ich hatte ihn nie nach seinem Alter gefragt, ich hatte es nie gewußt, bis er es mir im Museum zuflüsterte. Und ich hatte mir nicht einmal die Zeit genommen, um über das Warum nachzudenken.
    „Nein, es gibt keine anderen Sterblichen. Finden Sie das beruhigend?“
    „Ich habe es Ihnen zu erklären versucht. Er war genauso sterblich wie Sie.“
    Jenny starrte aufs Meer hinaus, und ihre Augen waren genauso trüb wie die ihres Liebhabers. Wie viele Menschen hatte ich dort oben getötet?
    Nein, er war nicht mein Kind. Aber er hätte es sein können, das wäre durchaus möglich gewesen. Ich war nie sehr keusch.
    Ich hob den Kopf, und mein Blick glitt durch das noppenbesetzte Schweigen des Raums. Ich seufzte. Und stand auf. Zu viele Fragen, ein zu quälendes Schuldbewußtsein. Ich konnte die Endgültigkeit von Tobias’ Tod nicht mildern, indem ich endlos grübelte. Und ich konnte ihn nicht ein zweites Mal umbringen. Jenseits des Raums wogte das Meer, glitt der Mond durch seine Phasen, drehte sich die Erde um die Sonne und die Sonne um das Zentrum der Galaxis. Alles erfüllte seinen Zweck, alles hatte seinen Sinn. Und es war meine Aufgabe, einen Sinn zu finden für diese Qual, dieses Sterben. Eine Beisetzungszeremonie der tieferen Bedeutung zu entwickeln.
    Ein Fisch stirbt, und sein Tod bildet die Lebensgrundlage für andere Fische und Meeresgeschöpfe. Oder der Kadaver sinkt hinab und wird ein Teil der üppigen Fruchtbarkeit am Meeresgrund. Ein Ozean stirbt, und sein Vergehen ist die Geburt von Land. Eine Klippe zerbricht unter der Wucht der Brandung, und das Meer ist zugleich geschrumpft und größer geworden. Ein kontinuierlicher Prozeß, und jeder Tod stellt ein Plus für den Zyklus des Lebens dar, jede Division multipliziert, jedes Subtrahieren addiert. All dies ist nicht ohne eine gewisse Harmonie: Leben und Tod stehen im Einklang zueinander, und es ist diese gleichwertige Bedeutung, dieser Gegensatz, der jedem Aspekt seinen Sinn gibt. Und das ist es auch, was Lippencotts Kinder verloren haben. Was ich verloren habe. Den Trost des Wandels, die Würde des Entwicklungsverlaufs.
    Er hätte sehr gut mein Kind sein können. Und die Bezahlung für sein Leben sollte darin bestehen, daß ich mein eigenes aufs Spiel setzte. Er hätte mein Sohn sein sollen.
    Ich wanderte durch den weiten Raum, bis ich vor dem dunklen Berg von Mitsuyagas letzter, noch nicht erprobter Schöpfung stand. Ich berührte den grauen Fleck; der Haufen teilte sich, und die beiden Hälften krochen langsam auseinander und enthüllten ein zugestöpseltes Fläschchen, das auf einem kleinen schwarzen Absatz stand. Sonst nichts. Kein Bildschirm. Keine Auflistung von Sprachen, keine Anhäufung von Worten. Ich nahm die Phiole in die Hand und betrachtete die im Innern schwimmende, graue Flüssigkeit, die sich nur in der Farbe von Wasser zu unterscheiden und ebenso leicht zu sein schien. Es fehlte nur noch ein Etikett mit der Aufschrift „Trink mich.“
    Hinter mir wuchs eine Liege aus dem Boden. Ich ließ mich darauf nieder, das Fläschchen noch immer in der Hand. Verspürte keine Bedenken, keine besonderen Erwartungen, war ganz ruhig und gelassen. Ich öffnete den Verschluß der Phiole, hob sie, prostete Tobias schweigend zu und trank die Flüssigkeit.
    Ich fühlte eine tiefgreifende Veränderung. Es war, als habe

Weitere Kostenlose Bücher