Vertraue nicht dem Feind
Kleidungsstück lag herum. Abgesehen von einem einzelnen Foto auf dem Nachttisch waren alle Ablageflächen leer. Reese betrachtete es genauer.
Auf dem Foto trug Alice die Haare kürzer. Neben ihr saß ein Mädchen, das einige Jahre jünger zu sein schien. Ihre Schwester? Augen, Haarfarbe und die vollen Lippen ließen es vermuten. Alice sah auf dem Bild so glücklich aus, wie Reese sie bisher noch nie erlebt hatte.
Unbeschwert.
Entspannt.
Die Alice, die er kannte, war nie so gelassen. Der Kontrast zu der Frau auf dem Foto beunruhigte ihn.
Er schlenderte zu ihrem Schrank, um einen Blick hinein zu riskieren.
Ihre schlichte Garderobe hing ordentlich auf Bügeln, und ihre Schuhe standen sorgsam aufgereiht auf dem Boden. Auf einem der oberen Regalbretter bemerkte er einen Schuhkarton. Er hob ihn herunter.
Die Schachtel enthielt die schwere Glock, mit der sie gestern in seiner Wohnung aufgetaucht war. Wieder musste er daran denken, wie sie die Waffe in der Hand gehalten hatte und an den Ausdruck in ihren Augen.
»Shit.« Er stellte die Schachtel zurück ins Fach und schloss den Schrank. Auf dem Weg nach draußen blieb er noch einmal stehen und warf einen Blick unter das Bett.
Kein Staubflöckchen, dafür ein ausziehbarer Schlagstock. Bei der anschließenden Inspektion ihres Nachttisches stieß er auf einen Elektroschocker.
»Was zum Teufel!« Mit wie vielen Angreifern rechnete sie denn? Und was um alles in der Welt war ihr zugestoßen, dass sie all diese Waffen für notwendig hielt?
Das ergab doch keinen Sinn. Alice war ungemein introvertiert, schrecklich ernst und verschlossen und strahlte so etwas wie eine stille Würde aus. Sie erinnerte ihn ein wenig an seine Lehrerin in der dritten Klasse, nur ohne Dutt und Stützstrümpfe. Er verzog den Mund. Ein ungeschickter Vergleich – insbesondere wenn er bedachte, wie scharf er auf Alice war.
Irgendetwas stimmte mit ihr nicht.
Anfänglich hatte er sich von Alice so und so – er musste unbedingt ihren Nachnamen in Erfahrung bringen – herausgefordert gefühlt. Es mochte arrogant klingen, aber in der Regel ignorierten ihn die Frauen nicht. Darum hatte ihre Gleichgültigkeit sofort sein Interesse geweckt.
Dann war ihm diese seltsame Intensität aufgefallen, die sie ausstrahlte, und wie extrem konzentriert sie wirkte, wann immer sie ihre Wohnung verließ. Beinahe, als erwarte sie hinter jeder Ecke den bösen, schwarzen Mann. Warum verhielt sich eine junge Frau aus der Mittelschicht, die in einer sicheren Wohngegend lebte, sogar am helllichten Tage derart übervorsichtig?
Ihre Verletzlichkeit zog ihn magisch an. Ihre großen, dunklen Augen, ihre schönes, braunes Haar.
Und dieser weiche, volle Mund …
Als sie zum ersten Mal gelächelt hatte – seinen
Hund
angelächelt hatte – war der Funke übergesprungen. Reese konnte sich nicht genau erklären, was da mit ihm geschehen war, aber es ließ sich nicht leugnen. Sie hatte etwas an sich, dem er nicht widerstehen konnte.
Er musste nur ihr verführerisches Lächeln sehen und bekam schon einen Ständer.
Im Bewusstsein, dass Alice jeden Augenblick zurückkehren konnte, durchsuchte er hastig das Badezimmer, doch bei seiner flüchtigen Inspektion entdeckte er lediglich die üblichen Badutensilien einer Frau. Keine verschreibungspflichtigen Tabletten, nur Aspirin und andere rezeptfreie Medikamente.
Im Gästezimmer, das sie zum Büro umfunktioniert hatte, stand ihr Computer. Treffer. Mit etwas mehr Zeit hätte er aus dem sicher eine ganze Menge Infos herausholen können. Auf dem Schreibtisch stand außerdem eine Ablage mit Papieren, und an den PC war eine externe Festplatte angeschlossen. In einem Körbchen lag ihre Post. Um ihren Nachnamen zu erfahren, würde ein schneller Blick genügen. Alles war penibel geordnet. Ihre Unterlagen zu durchsuchen wäre ein Kinderspiel.
Und eine massive Verletzung ihrer Privatsphäre. Weitaus schlimmer, als heimlich in ihren Schrank und unter ihr Bett zu spähen. Herrgott, die Versuchung war groß …
Hastig schlug Reese die Tür zu, um zumindest ein letztes bisschen Integrität zu wahren. Er würde mit Alice reden, ihr Fragen stellen und hoffentlich Antworten erhalten. Erst danach würde er über das weitere Vorgehen entscheiden.
Doch jetzt, nachdem er ihre Waffe, den Taser und den Schlagstock gesehen hatte, brauchte er erst einmal einen Kaffee.
Als er sich wenige Minuten später gerade mit seiner zweiten Tasse an den Tisch setzte, flog plötzlich die Wohnungstür auf, und Alice
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