Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Klamotten anziehen und dann mit dem eigenen Wagen ins Krankenhaus kommen. Verzweifelt wühlte ich in meinen Jeanstaschen. Wo war nur der Schlüssel? Die Haustür war ins Schloss gefallen. Hilflos wie ein kleines Kind stand ich da und wäre am liebsten im Boden versunken.
Da entdeckte ich ein Augenpaar, das mir vertraut vorkam. Von unter einem Helm schaute es mich besorgt an. Ein Elektrofahrrad wurde achtlos in den Kies geworfen, gleich darauf lag der Helm daneben. Ein verschwitzter, rötlich behaarter Arm streckte sich nach mir aus.
»Carin, Schnuckelmaus, was ist denn passiert?«
Auch wenn ich mir das »Schnuckelmaus« in jeder anderen Situation energisch verbeten hätte: Jetzt warf ich mich schluchzend in Rainers Arme.
4
U m Mutter war es nicht gut bestellt. Sie hatte aus unerklär lichen Gründen versucht, auf den Badezimmerhocker zu klettern, den ich benutzte, wenn ich die Fenster putzen oder etwas im Schrank verstauen wollte. Mit ihren einundneunzig Jahren hatte sie den Ehrgeiz gehabt, aus dem obersten Fach des Badezimmerschränkchens ein Medikament zu holen, das ich mit Recht vor ihr versteckt hatte! Angeblich hatte sie mich nicht beim Telefonieren stören wollen. Das war mal wieder typisch meine Mutter! Der reinste Altersstarrsinn. Jedenfalls war sie gegen die Heizung gefallen und hatte sich das Bein regelrecht aufgeschlitzt. Viel mehr konnte mir der Arzt auch nicht sagen, als ich mit Rainer in der Notaufnahme des Krankenhauses ankam: Sie müsse operiert werden, man hoffe, die große Beinwunde werde wieder gut heilen. Aber: »In diesem Alter kann das schwie rig werden. Wenn wir Pech haben, müssen wir amputieren!«
»Um Gottes willen!« Erneut sank ich in Rainers tröstende Arme. »Das wird meine arme Mutter nicht verkraften!«
»Schnuckelmaus, bleib ganz ruhig.« Rainer klopfte mir besänftigend auf den Rücken. Ich war so geschockt, dass ich die Schnuckelmaus kommentarlos im Raum stehen ließ. Dass der Arzt kaum merklich die Brauen hochzog, veranlasste mich, schamesrot auf den Linoleumfußboden zu starren.
Rainer besprach geistesgegenwärtig noch dies und das mit dem Arzt, weil ich dazu nicht mehr in der Lage war. Behandlung erster Klasse, Einzelzimmerzuschlag – das Übliche. Über mich und meinen sicheren Job war Mutter wenigstens privat versichert. Ich war so erleichtert, dass Rainer da war!
Anschließend führte er mich zu seinem grünen Auto, das ich auf einmal gar nicht mehr so scheußlich fand. Rainer, mein Retter, gurtete mich fürsorglich an, stellte mir den Beifahrersitz richtig ein und sah mich von der Seite an: »Das war ja heute ein schwarzer Tag für dich, Schnuckelmaus!«
Ich massierte mir die pochende Stirn. Als er losfuhr, lehnte ich ermattet den Kopf an die Kopfstütze: »Es war kein schwarzer Tag, Rainer! Ich habe meinen Sohn gefunden!«
Sein Kopf fuhr zu mir herum: »Was? Du hast einen …«
»Guck auf die Straße!«, rief ich mit letzter Kraft. Fast wäre Rainer mit einem Moped zusammengestoßen. Noch mehr Unfallopfer konnte ich heute einfach nicht mehr verkraften. »Ja, ich habe einen Sohn.«
»Wie alt?« Erneut sah er zu mir hinüber.
»Dreißig. Bitte, Rainer, ich werde wahnsinnig, wenn du so schlingerst.«
Rainer bog rechts ab, wobei er fast einen Radfahrerkollegen umnietete, der ihm wild klingelnd den Vogel zeigte. Dann hielt er vor einem Biergarten, aus dem fröhliches Stimmengewirr zu hören war.
»Ich kann jetzt auch nicht mehr fahren. Lass uns ein Bier trinken.«
Der Radfahrer von vorhin humpelte an uns vorbei und tippte sich an den Helm. Er murmelte etwas wie »Du dämlicher Idiot!«, was ich geflissentlich ignorierte.
Arm in Arm betraten Rainer und ich den Biergarten. In jeder anderen Situation hätte ich mich freundlich, aber bestimmt aus seiner Umklammerung befreit, aber jetzt ließ ich es geschehen. Vermutlich wäre ich sonst zusammengesackt.
Ah, das Gartenlokal kannte ich! Als Mutter noch gut gehen konnte, war ich ein paarmal zu Kaffee und Kuchen mit ihr hier gewesen. Man konnte herrlich am See sitzen und seinen Gedanken nachhängen. Wie oft hatte ich meine Liebe zu Oliver diesen sanften Wellen anvertraut? Bunte Lampions hingen in den Bäumen, Gläser klangen, und es roch köstlich nach Gegrilltem. Die Welt drehte sich einfach weiter, als wäre nichts gewesen. An der Schänke standen mehrere Männer mit ledernen Schürzen. Sie lachten laut und zapften Bier in riesige Krüge. Eine energische Kellnerin balancierte üppige Salatteller an uns vorbei. Ich
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