Verwechseljahre: Roman (German Edition)
war mir sicher, nie wieder etwas essen zu können. Aber mir war nach sehr viel Alkohol.
Wir ergatterten noch einen Tisch am Seeufer. Mit zitternden Knien ließ ich mich auf einem wackeligen Stuhl mit grüner Holzlehne nieder. Rainer schob sich ächzend auf die Bierbank unter dem Gesträuch, in dem es von Mücken summte. Sofort schmiegte sich eine Ranke um seinen Nacken. Er wischte sie ein paarmal vergeblich fort, dann arrangierte er sich mit ihr. Rainer trug immer noch sein durchgeschwitztes Radfahrerkostüm mit der Reklame der örtlichen Sparkasse. Sein Hinterteil zierte ein »Windelpaket«, wie es Rennradfahrer gerne auf der Tour de France tragen. Rainer sah aus wie ein zu groß geratenes Wickel kind in einem zu engen Strampelanzug. Ständig schlug er sich in den Nacken, um die Mücken zu vertreiben, die sich an seinem Schweiß laben wollten. Der wirklich coole Radfahrer lehnte in zwischen am Ausschanktresen und starrte finster zu uns herüber.
Wir bestellten beide ein großes Bier. Er, weil er »mindestens achtzehn Kilometer geradelt« war, und ich, weil ich meinen Sohn wiedergefunden und meine Mutter fast verloren hatte.
Am liebsten hätte ich meine beiden besten Freundinnen angerufen, aber die waren nicht verfügbar. Billi, Mutter von drei Kindern, war mit ihrer Familie beschäftigt. Ihre Tochter Rikki erwartete jeden Moment ihr Baby. Und Sonja war mit ihrem Fit nessstudio beschäftigt. Sie wollte einen neuen Trainer einstellen und den bestmöglichen Eindruck auf ihn machen. Deshalb verbrachte sie den heutigen Tag bei einem angesagten Friseur, der ihr Haarverlängerungen machen sollte. Das dauerte. Nein, die Sache mit Oliver wollte ich ihnen irgendwann in Ruhe persönlich sagen. Ich hatte ihnen meinen Sohn nie gebeichtet. Doch nun wussten schon drei von seiner Existenz: Mutter, ich – und Rainer. Ausgerechnet!
Nach dem ersten Schluck Bier ging es mir etwas besser. Rainer nahm meine Hände, bevor ich die Geistesgegenwart besaß, mich rechtzeitig draufzusetzen. »Du armes Schnuckelmäuschen. So viel Stress an einem Tag.«
Der Rennradfahrer am Ausschank wandte sich angewidert ab. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Rainer sah wirklich lächer lich aus. Und ich war auch kein Schnuckelmäuschen, leider. Im Moment sah ich eher aus wie eine struppige Ratte. Ich widerstand dem Reflex, meine Hände wegzuziehen, und Rainer war im siebten Himmel. Die von mir ertrotzte »Auszeit«, für Rainer eher eine »Eiszeit«, schien endlich vorbei zu sein. Nach Jahren hatte er mich wieder. Ich hatte mich in seine Arme geworfen! An seiner Schulter geheult! Er kannte mein Geheimnis! Und er hatte mir aus der Patsche geholfen! Er war ein Held! Wie konnte ich mich da zickig zieren und ihm die kalte Schulter zeigen?
»Magst du mir nicht mehr von deinem Sohn erzählen?«, fragte Rainer. Alle Fragen von Rainer, die mit »Magst du« begannen, machten mich wahnsinnig. Genauso wie die Formulierung »ein Stück weit«. (Der Gipfel des Grauens war folglich: »Magst du mich ein Stück weit streicheln?«) Aber heute mochte ich. Also erzählen. Ich hatte sogar ein Stück weit das dringende Bedürfnis.
5
W ie gesagt: 1983 gab es einen wunderschönen Sommer. Ich hatte gerade die Mittlere Reife gemacht und konnte mich nicht entscheiden, ob ich noch drei Jahre die Schulbank der Klosterschule drücken oder den Bürojob annehmen sollte, den man mir angeboten hatte. Die Freiheit erschien mir zum Greifen nah. Sosehr Mutter und ich auch der Kirche verbunden waren, sosehr engten mich Klosterschule, Kirchenchor und Sonntagsmesse doch ein. Dafür erlaubte mir Mutter, als Leiterin einer Kindergruppe zum Wolfgangsee zu fahren. Singen, beten, wandern. Sechs ungetrübte Wochen in einem alten Barockkloster, einem riesigen gelb gestrichenen Bau am Ende des Sees. Hinter uns nur noch steil aufsteigender Wald, vor uns der türkisfarbene, glasklare See. Wir hatten Boote, mit denen wir jeden Morgen nach St. Gilgen hinüberruderten, um die Kinder zu versorgen: mit frischen Brötchen, frischer Milch und Nutella. »Jetzt fahrn wir übern See, übern See, jetzt fahrn wir übern See. Mit einer hölzern Wurzel …«, war unser damaliger Sommerhit. An einer bestimmten Stelle musste man plötzlich aufhören zu singen, und wer aus Versehen weitersang, musste ein Pfand abgeben. Ich war ganz in meinem Element. Singen konnte ich gut. Ich feuerte die Kleinen an. Wenn sie Heimweh hatten, tröstete ich sie. Ich hatte eine wichtige Aufgabe, bekam Anerkennung, Lob und Zuwendung.
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