Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Ich wollte auf eigenen Füßen stehen, Geld verdienen. Selbst über mein Leben bestimmen. Ich hatte den Bürojob gerade angenommen und mein seelisches Gleichgewicht einigermaßen wiedergefunden, als Mutter Gebärmutterhalskrebs bekam: Totaloperation. Sie bekam Chemo, kotzte sich die Seele aus dem Leib.
Und eines Morgens kotzte ich mit.
An diesem Punkt meiner Erzählung kam der große gemischte Grillteller für Rainer. Er ließ umständehalber meine Hände los, griff nach dem Besteck und ging wie Obelix auf ein Wildschwein auf seine Fleischberge los.
»Tut mir leid, dass ich dir hier was voresse«, sagte er mit vollem Mund. »Aber ich bin total ausgehungert. Ich bin schließlich achtzehn Kilometer weit Rad gefahren.« Er wischte sich das Fett von der Oberlippe und schob Kartoffelsalat hinterher.
Mit einer Mischung aus Bewunderung und Abscheu sah ich ihm dabei zu. Wie konnte er nur in so einer Situation essen? Aber sein Magen war ja nicht zugeschnürt. Nur meiner. Immer wenn ich an damals dachte, glaubte ich, nie wieder einen Bissen herunterzubringen.
»Erzähl ruhig weiter!« Mit seiner Gabel dirigierte Rainer mich wie ein Orchester, das zum zweiten Satz übergehen soll. Zum langsamen Teil. Andante con moto . »Ich höre.«
»Nun ja«, fuhr ich fort, nachdem ich einen großen Schluck Bier genommen hatte. »Wir kotzten also. Alle beide.«
»Okay«, sagte Rainer, schob sich ein dickes Stück Wurst in den Mund und sah mich erwartungsvoll an.
Ich reichte ihm eine Serviette. »Du hast Soße am Kinn.«
»Und dann?«, drängte Rainer und wischte sich die Soße vom Kinn und den Schweiß von der Stirn. »Was ist? Wie geht’s weiter?«
»Um Gottes willen!«, lauteten damals die Worte meiner lieben Mutter. »Schwanger! Von einem Vikar! Und dann auch noch von einem Italiener!« Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Abgemagert und glatzköpfig saß sie in ihrem Bett.
Es war die Hölle. Eine Hölle, die ich verdient hatte, das war mir klar. Von wegen, deine Sünden sind dir vergeben, bete drei schmerzensreiche Rosenkränze. So leicht kam ich nicht davon. Ich heulte und heulte. Mutter schimpfte nicht. A) hätte es die Sache nicht besser gemacht und B) hatte sie dazu gar nicht die Kraft.
»Was soll nur aus dir werden, Kind, wenn ich nicht mehr bin! Es könnte mein letzter Sommer sein!«, krächzte Mutter wie ein sterbender Vogel.
Ja, unvorstellbar. Ich, knapp siebzehn, elternlos, aber mit Kind. Wir mussten Alessandro Bigotti finden, das war unser erster Gedanke. Gleichzeitig sagte eine Stimme in meinem Kopf: »Nein, ich habe versprochen, ihn nie wieder zu kontaktieren!«
Mutter war anderer Ansicht. »Das badest du nicht alleine aus. Zum Kindermachen gehören immer zwei.«
Damals gab es noch kein Internet. Ich wusste nur, dass er aus Florenz stammte. Im Telefonbuch von Florenz gab es viele Bigottis. Meine Mutter beauftragte einen Detektiv. Dieser fand schließlich die Adresse von Alessandros Eltern heraus und erkundigte sich erst mal bei den Nachbarn, wo denn der geistliche Sohn zu finden sei. Die Nachbarn waren Deutsche und hießen Sturm. Aber sie wollten dem Detektiv keine Auskünfte geben. Das sei der Stand der Dinge, meinte der Detektiv. Aber immerhin habe er eine Kontaktadresse aufgetan, sein Job sei damit erledigt. Mit diesen Worten hielt er die Hand auf. Darin verschwanden die letzten Geldreserven aus Mutters Sparstrumpf.
Während ich all das erzählte, biss Rainer krachend auf Knöchelchen.
»Weiter!«, forderte er kauend. »Und dann?« Ich bin ein guter Zuhörer, sagten seine Augen. Das solltest du wissen.
Ich nahm meine Geschichte wieder auf.
Mutter schrieb tapfer an die Sturms in Florenz. Wo denn der Sohn ihrer Nachbarn zu finden sei, es gehe um ihre Tochter. Ich sah sie noch heute an dem wackeligen Nachttisch im Krankenhaus sitzen, am Tropf hängend und auf dieses linierte, graue Krankenhauspapier schreiben. Zu wissen, dass sie zu mir hielt, war unbeschreiblich tröstlich.
Den Antwortbrief des alten Herrn Sturm vom Dezember 83 kannte ich auswendig:
Sehr geehrte Frau Bergmann,
leider kann ich Ihren freundlichen Brief vom 29. November nur unvollständig beantworten, denn wir haben zu unseren Nachbarn zwar korrekte, aber nur flüchtige Beziehungen. Wir sehen uns selten, meist bloß über die Gartenmauer, grüßen uns freundlich, erkundigen uns gegenseitig nach dem werten Befinden, mehr aber auch nicht. Den jungen Herrn Alessandro haben wir vor etwa anderthalb Jahren nur etwa zehn Minuten gespro
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