Verwechseljahre: Roman (German Edition)
Die Kinder liebten mich. Mit mir konnte man Pferde stehlen. Ich erzählte den Kindern Geschichten, um sie bei Laune zu halten. Ich fühlte mich erwachsen. Und schwebte auf Wolke sieben, als Vikar Alessandro Bigotti mich als junge Frau wahrnahm. Ich sah seine bewundernden Blicke aus tiefschwarzen Augen. Schon bald betrachteten uns die Kinder als coole Ersatzeltern. Sie rissen sich darum, im Speisesaal neben uns sitzen zu dürfen, an unserer Hand zu gehen, in unserer Nähe zu sein. Alessandro und ich spielten das Spiel mit: Vater, Mutter, Kind. Wir waren eine große, lustige Familie. »Widdewiddewitt, guten Appetit. Jeder esse, was er kann, nur nicht seinen Nebenmann. Piep, piep, piep, wir ham uns alle lieb.« Dabei hielten wir uns an den Händen. War es Zufall, dass sich unsere Knie unter dem Tisch berührten?
Bei uns war am längsten Abendsonne: Wenn der ganze See schon düster und schwarz im Schatten lag, leuchtete unser gelbes Kloster noch wie von göttlichen Scheinwerfern angestrahlt, und wir sprangen ein letztes Mal ins Wasser. Dann senkte sich die Sommernacht über unser Fleckchen Paradies. Tausend Sterne spiegelten sich im See, und wir kuschelten uns am Lagerfeuer zusammen, genossen das duftende Holz und das heimelige Knistern des Feuers. Ich stimmte das Abendlied an. »Der Mond ist aufgegangen .« Mit Hingabe sang ich die Oberstimme. »Und aus den Wiesen steiget … Und unsern kranken Nachbarn auch.« Wir brachten die Kinder in ihre Schlafsäle. Hinter den vergitterten Fenstern sah man den fahlen Mond.
Alessandro Bigotti hielt Wache bei den Buben, ich bei den Mädchen. Zwischen den beiden Schlafsälen lag der Aufenthalts raum. Mit dieser Kuschelecke. In der wir irgendwann saßen und uns streichelten und küssten. (Ein Stück weit.) Er war erregt, und das erregte mich. Ich hatte gute Chancen, sein Keuschheitsgelübde zu entkräften. Ich fühlte mich wichtig, und das Leben war so aufregend wie nie zuvor.
»Carin, ich darf das nicht!«
Ich wusste, dass es Sünde war. Das machte es ja gerade so spannend. Aber wenn Sünde so schön war, wollte ich gern in der Hölle schmoren. Hauptsache, ich durfte dort neben ihm sitzen.
»Im Himmel würde ich mich langweilen«, kokettierte ich übermütig. »Da kenne ich ja keinen!« Lachend zog er mich an sich, sagte, er sei hin- und hergerissen. Schelmisch sang ich: »Kann denn Liebe Sünde sein? Darf es niemand wissen, wenn man sich küsst, wenn man einmal alles vergisst – vor Glück? Kann es wirklich Sünde sein? Wenn man immerzu an einen nur denkt, wenn man einmal alles ihm schenkt – vor Glück? Niemals werde ich bereuen, was ich tat und was aus Liebe geschah …«
Er fand mich süß, hinreißend, verführerisch, frech. Ich sei so anders als andere Mädchen …
Wir diskutierten ernsthaft über Adam und Eva. Ich war ja bibelfest wie ein Pfaffe. Über die verbotene Frucht. Von wegen Apfel, Frucht! (Eine Pflaume, vermutlich.) Dass das alles doch nur eine Parabel sei. Und von wegen Schlange … Besaß sie in gewisser Weise nicht Ähnlichkeit mit dem männlichen Anhängsel? Hüstel. Das Paradies war hier und jetzt. Und daraus wollten wir uns nicht vertreiben lassen. Noch nicht. Es war unser Sommer.
Am Ende der sechs Wochen passierte es – eine herrliche Dornenvögelei. Aber nur eine einzige, und danach waren wir beide völlig erschrocken. Wir schworen uns, es niemandem zu sagen. Alessandro nahm mir das Versprechen ab, ihn nicht zu kontaktieren. Er wolle der Kirche treu bleiben, er werde es seinem Beichtvater beichten, und wenn Gott ihn freigesprochen habe, würde er es für immer vergessen.
Ich wollte dasselbe tun. Beichten und vergessen. Wir waren zu weit gegangen. Alessandro gehörte der Kirche. Ich hatte schlimme Schuldgefühle und noch entsetzlicheren Liebeskummer. Mein gebrochenes Herz war die Strafe des Himmels. Ich hatte sie verdient und schämte mich abgrundtief. Ich nahm all meinen Mut zusammen und beichtete es. Die Stimme hinter dem lila Vorhang begann, von Maria Magdalena zu faseln – das war Standard bei diesem Thema –, und sagte schließlich: »Geh hin und sündige nicht mehr.«
Das hatte ich auch nicht vor. (Siehst du, Rainer: Es liegt nicht an dir! Andererseits gab es da auch noch das achte Gebot: Du sollst nicht lügen.)
Alessandro sollte ich nie mehr wiedersehen.
Nach diesen Sommerferien war es für mich ein Ding der Unmöglichkeit, in die Klosterschule zurückzukehren. Ich war eine Frau geworden, auch wenn das mein Geheimnis bleiben sollte.
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