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Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges

Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges

Titel: Verwüstung - Eine Geschichte des Dreißigjährigen Krieges Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Unschuld», eine vierte «Ich sehe mit Freude einem Verdienst entgegen» und so weiter. Aus einem Klassiker wie Boncompagno konnten sie lernen, durch unterdrücktes Hüsteln die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu gewinnen oder den Blick zum Himmel zu richten, um den Eindruck zu erwecken, als warteten sie auf eine Inspiration von oben. Die Etikettebücher lehrten, dass man sich gemessen bewegte: Man sollte den Kopf nicht hin-und herdrehen oder -werfen oder zu viel mit den Augen rollen oder zu schnell gehen. Die ausgeklügelte Langsamkeit, die einen so großen Teil des Lebens im 17 . Jahrhundert charakterisierte, wurde auch in der Gestik kultiviert. Es galt auch, geradeaus zu blicken – «in der spanischen Manier» – und sich stets gerade zu halten, dies in direktem Kontrast zu den einfachen Bauern, die in der Regel gekrümmt und geduckt dargestellt wurden, die Beine breit und die Hände in der Luft. Kinder und Jugendliche, die eine schlechte Haltung hatten, wurden deshalb mit verschiedenen Methoden behandelt, die dem abhelfen sollten, wie steifen Kragen, besonderen Bändern, die am Hut befestigt waren, Dampfbädern oder sogar einfachen chirurgischen Eingriffen. Die Haltung sollte also gerade sein, gern ein wenig zurückgeneigt, das Körpergewicht auf das eine Bein gelegt, während das andere eine Spur nach vorn geschoben wurde. Besonders, wenn man Personen von höherem Rang begegnete, war es wichtig, sich richtig zu halten und auf seine Gebärden zu achten. Unter anderem galt es als höchst unfein, jemanden zu berühren, der über einem stand; auch wenn eine Dame von hohem Rang einem die Wange zu einem Willkommenskuss darbot, hatte man tunlichst darauf zu achten, dass dieser in die Luft ging. Außerdem sollte man vermeiden, einer übergeordneten Person direkt in die Augen zu sehen, da dies als Mangel an Respekt ausgelegt werden konnte; der Blick sollte schüchtern abgewandt sein. Mit übergeschlagenen Beinen zu sitzen, geziemte sich in alltäglichen Situationen nicht, und in feierlicheren Situationen war es eine reine Verunglimpfung.
    Weil die Gesten so voller Bedeutung waren und verschiedene nonverbale Formen der Kommunikation eine so große Rolle in der Kultur spielten, hatten die Gesten auch im politischen Spiel eine wichtige Funktion zu erfüllen. Soweit die Politik öffentlich war, nahm sie nicht selten die Form einer Art von Theater an, bei dem die Regierenden (die Akteure) mit dem Regenten an der Spitze auftraten, während das Volk (die Zuschauer) dabeisaßen und der Vorstellung mit höchster Aufmerksamkeit folgten und jede kleine Nuance in der oft überdeutlichen Gestik der Agierenden interpretierten – wie bei Christinas Abdankung in Uppsala.
    Gegen sechs Uhr am Morgen des 6 . Juni 1654 war der Reichssaal des Schlosses in Uppsala gefüllt mit einem Gewimmel von Menschen: Adlige, Geistliche, Bürger und Bauern, goldbehängte Hofdamen, Kinder und Lakaien, Wachen mit Hellebarden und ausländische Gesandte. Viele Neugierige standen hinter tuchumkleideten Schranken dicht gedrängt, andere saßen auf Bänken, die wie in einem Amphitheater angeordnet waren. Ganz vorn im Saal, zwischen zwei großen Fenstern und auf einem drei Stufen hohen Podest, stand unter einem riesigen Baldachin ein Thron aus Silber. Rechts vom Thron, unten auf dem Boden, stand ein Tisch. Er war leer bis auf sechs gut gestopfte kleine Kissen. Um neun Uhr betrat die Königin den stickigen Saal. Sie trug ein einfaches, weißes Kleid aus Taft mit flachen Schultern und einen blauen, hermelingefütterten Mantel mit goldenen Kronen. In der linken Hand trug sie den Reichsapfel, in der rechten das Zepter, und auf ihrem Kopf balancierte sie die Krone. Sie setzte sich auf den Silberthron. Der schwarzgekleidete Karl Gustav ließ sich auf einem Stuhl links vom Thron nieder – dem Ehrenplatz. Die 32 Reichsräte stellten sich neben die Königin. Nun hätte Axel Oxenstierna aufstehen und die Abdankungsakte verlesen sollen, doch um seine Missbilligung zu zeigen, weigerte er sich, dies zu tun, weshalb ein anderer Reichsrat, der gelehrte Diplomat Schering Rosenhane, vortreten und das Dokument vorlesen musste. Darin wurden alle Untertanen der Königin von dem Treueid entbunden, den sie ihr einst geschworen hatten, und wurde erklärt, dass die Regierung Karl Gustav übertragen werde. Nun überreichte Rosenhane dem Pfalzgrafen das Dokument, der es entgegennahm und ihm dafür ein anderes zum Verlesen reichte, in dem Karl Gustav versprach, die Bedingungen zu beachten,

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