verwundet (German Edition)
Lager, das sich im hinteren Flügel befand, und setzte sich auf eine ausrangierte Couch. Sie musste diesen inneren Druck loswerden. Könnte sie doch jemals diese zermürbenden Gedanken ausschalten! Sie sehnte sich nach Ruhe und Gleichgültigkeit. Seit sie denken konnte, fühlte sie in Extremen. Sie schien nicht nur das äußerliche Abbild ihrer Mutter zu sein.
So fand Lydia sie. „Lisa. Was ist los?“
Lisa erschrak. „Nichts.“
Lydia setzte sich neben sie. „Aber du weinst doch.“ Sie wollte sie in den Arm nehmen, doch Lisa wich zurück. „Es ist nichts. Lass mich einfach in Ruhe.“
Lydias Gesicht verdüsterte sich. Einen Augenblick lang sahen sich beide nur stumm an. Schließlich erhob sich Lydia. „Nun gut, ich will nicht in dich dringen.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich muss jetzt gehen. Frau Kraus wird heute abschließen. Ich denke, ich bin zwischen sieben und acht Uhr zu Hause.“
Lisa nickte nur und wandte sich ab. Sie hörte, wie Lydias Schritte sich entfernten.
Sollte sie ihrer Mutter folgen? Der Tod kam ihr wie eine Verheißung vor. Er war nichts als ein schwarzer Vorhang, dahinter lagen Frieden und Vergessen. Was sollte sie jetzt anfangen? Sie musste Lydia fern bleiben, musste diesen Schmerz von sich halten, den sie bei ihr auslöste. Aber zu Manfred konnte sie auch nicht mehr gehen. Sie hatte sich wohl gefühlt mit ihm. Er war ein guter Liebhaber und hatte ihr manchmal sogar zugehört. Wenn sie die Nächte mit ihm verbracht hatte, hatte sie Lydia immer erzählt, sie sei bei einer Freundin.
Kaum war seine Frau zu ihm zurückgekehrt, hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass sie nicht mehr erwünscht sei. Warum nur fiel sie immer wieder auf Männer herein? Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr ging das nun schon so.
Nach einiger Zeit erhob sie sich und betrat den Verkaufsraum, in dem Susanne und Frau Kraus mittlerweile mit Kunden beschäftigt waren. Mit einem Blick aus dem Schaufenster stellte sie fest, dass der Regen aufgehört hatte. Sie holte ihre Jacke, winkte den beiden noch einmal zu, verließ die Buchhandlung und lenkte ihre Schritte in Richtung Innenstadt. Als sie am Eiscafé Venezia vorbeikam, zuckte sie zusammen. Hier war sie hin und wieder mit Mara, ihrer Mutter, eingekehrt. Bei ihrem letzten Besuch im Sommer war Mara richtig aufgekratzt gewesen und hatte ihr von ihrem aktuellen Freund erzählt. Lisa überlegte, ob sie hineingehen sollte, ließ es dann aber. Bald kam sie durch das Bismarckviertel. Martina fiel ihr ein. Sie waren von der ersten bis zur vierten Schulklasse befreundet gewesen und hatten oft die Nachmittage zusammen verbracht. Bei der zwei Jahre älteren Schwester und den Eltern Martinas hatte sie sich wohl gefühlt. Eine richtige Familie mit einem gemütlichen Heim! Furcht vor zu Hause hatten die beiden Mädchen nicht gekannt. Wie hatte sie sie beneidet, und der Heimweg war ihr nach jedem Besuch schwerer gefallen. Auf dem in der Nähe gelegenen Spielplatz waren sie immer zusammen Karussell gefahren. Als Lisa jetzt dort stand, sah sie sich beide wieder im Kreise drehen oder auf den Schaukeln jauchzend durch die Luft fliegen. Es hatte stets etwas von Freiheit gehabt, dachte sie und seufzte. Als Martina auf das Gymnasium gekommen war, hatten sich ihre Wege getrennt.
Ziellos ließ sie sich weiter treiben. Zu ihrer eigenen Überraschung stand sie nach einer Weile plötzlich vor dem Haupteingang des Friedhofes. Nach kurzem Zögern betrat sie den Hauptweg. Es war ein sehr alter Friedhof mit stattlichen Eichen, Kastanien und Linden, die nun kahl waren, während die Tannen ihr immergrünes Kleid trugen. Der Wind trieb die dunklen Wolken vor sich her und brachte die Spitzen der hohen Nadelbäume zum Schwanken. Die Grabsteine waren sehr unterschiedlich. Manche waren schlicht und klein, manche groß und prunkvoll, und wieder andere waren schon sehr verwittert und mit Moosflechten bewachsen. Die Mehrzahl der Gräber war gepflegt, indes sich um einige niemand zu kümmern schien. Die Grabstätte ihrer Mutter wurde von Lydia in Ordnung gehalten, und als sie dort ankam, stand auch schon wieder ein frischer bunter Strauß in der grünen Steckvase. Sie musste erst vor kurzem hier gewesen sein, denn die Blüten lagen noch nicht so verstreut herum wie beim Nachbargrab, wo der Wind und der Regen den Strauß schon völlig zerrupft hatten. Im Gegensatz zum Tag der Beerdigung schwiegen heute die Vögel. Nur ein paar vereinzelte Krähen krächzten und flogen über die Gräber
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