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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kühn
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oder liefen auf den dazwischen liegenden Rasenflächen umher. Sie starrte auf die feuchte Erde und das nasse Gras. Noch immer konnte sie sich nicht vorstellen, dass der agile Körper ihrer Mutter hier in einer Holzkiste liegen sollte, ihr warmer, weicher Leib, der ständig in Bewegung gewesen war. Ihre Impulsivität und Flatterhaftigkeit hatte sich in ihren heftig gestikulierenden Händen ausgedrückt. Nur wenn ihr Mann nach Hause gekommen war, hatten sich ihre dunklen, beseelten Augen geweitet, und sie war förmlich erstarrt. Auch sie selbst hatte die Heimkehr des Vaters gefürchtet, und so war sie, so oft sie konnte, geflohen. Schon mit vierzehn hatte sie begonnen, sich herumzutreiben. Ihre ständige Begleitung war Petra, eine Schulfreundin, gewesen, bis diese eines Tages verschwunden war. Es hatte geheißen, dass sie in Hamburg auf dem Strich erwischt und in ein Erziehungsheim gesteckt worden sei. Lisa hatte sie immer darum beneidet, keinen Vater zu haben. Später hatte sie sich mit Heidi befreundet, die ebenfalls die Schule abgebrochen hatte und nun in der Grotte, ihrer Stammkneipe, bediente. Seit sie bei Lydia wohnte, war sie etwas häuslicher geworden. Aber die Hoffnung hatte sie getrogen. Sie fand keinen Frieden, und die Gefühle, die Lydia bei ihr hervorrief, trieben sie aus dem Haus. Ein wenig Halt hatte sie bei Manfred gefunden, aber das war ja nun vorbei. Wieder ein leeres Versprechen!
    Sie begann zu frösteln. Ein feiner Sprühregen hatte eingesetzt, der ihre Wangen benetzte und offenbar durch alle Kleidung hindurchdringen konnte. Sie machte sich auf den Rückweg. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Mit gesenktem Kopf lief sie die schmalen, aufgeweichten Wege entlang. Als sie zum zweiten Mal an einem Grabstein aus Marmor in Herzform vorbeikam, merkte sie, dass sie im Kreis gegangen war. Der nun wieder stärker werdende Regen wurde regelrecht vom Wind gepeitscht. Sie beschloss, sich bei der Friedhofskapelle unterzustellen. Als sie dort ankam und sich bei der Eingangstür postierte, drangen leise Töne an ihr Ohr. Sie horchte auf. Die Klänge schienen aus der Kapelle zu kommen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und schlüpfte in die kleine Kirche. Tatsächlich fand dort ein Trauergottesdienst statt. Ganz leise, um nicht aufzufallen, setzte sie sich in die letzte Bank. Es waren nicht mehr als ein Dutzend Menschen, die sich dort versammelt hatten. Die Musiker, ein Gitarrist, ein Geiger und die Sängerin, standen auf einer kleinen Empore. Die Stimme der jungen Frau war sanft und kräftig zugleich. Sie sang eine wehmütige Weise in einer Sprache, die Lisa nicht verstand. Die Elegie war von einem seltsam betörenden Zauber. Sie schloss die Augen, und bald mischten sich in das kühle Regenwasser auf ihrem Gesicht warme Tränen. Erst als das Lied verklungen war und der Pfarrer zu sprechen begann, wurde ihr wieder bewusst, wo sie sich befand. Sie verschwand so unbemerkt, wie sie gekommen war. Auf dem halbstündigen Heimweg spürte sie weder Regen noch Wind. Die Melodie hallte in ihr nach und begleitete sie bis nach Hause. Als sie in Lydias Flur vor dem Garderobenspiegel stand, stellte sie fest, dass sich ihre roten Locken in nasse, dunkle Strähnen verwandelt hatten und sie Wasserlachen auf dem Teppichboden hinterließ. Schnell zog sie die feuchte Kleidung aus, ließ sich ein Bad ein und stieg in das heiße Wasser. Auch ihre Mutter hatte das Baden geliebt. Die Temperatur konnte durchaus vierzig Grad betragen. Ihre Mutter würde allerdings nie mehr baden. Nie mehr würde sie sich in einem neuen Kleid vor dem Spiegel drehen, nie mehr einem so wunderbaren Lied wie in der Friedhofskapelle zuhören können, nie mehr barfuß durch eine Sommerwiese laufen, ihr nie mehr durch die Locken fahren und sagen: „Du siehst ja aus wie ich!“ Nie mehr!
    *

***
    A ls Harald auf dem Weg nach Hause war, fiel ihm wieder auf, wie trist die Gegend wirkte. Die meisten Häuser waren verfallen, einige sogar derart baufällig mit zerbrochenen Scheiben, verrotteten Fensterrahmen und einsturzgefährdeten Treppenhäusern, dass sie nicht mehr bewohnbar waren. Die Häuser in seiner Straße waren alle vermietet, machten aber auch keinen sehr einladenden Eindruck. Da er jedoch von Gelegenheitsjobs lebte, konnte er keine großen Ansprüche stellen, und die Mieten waren hier nun einmal besonders günstig. Seine Wohnung mit den beiden Zimmern, in die er vor einer Woche eingezogen war, befand sich in einem dreistöckigen Haus in der Nähe der

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