verwundet (German Edition)
bis jetzt über jeden Umzug heil hinwegretten können. Bald schallte die Stimme Renata Tebaldis durch den Raum. Ihre Interpretation von O mio babbino caro hatte es ihm besonders angetan. Puccini war ohnehin einer seiner Lieblingskomponisten. Er lümmelte sich in seinen Sessel, legte die Füße auf den Tisch und schloss die Augen. Sein Vater, der heute Geburtstag hatte, kam ihm in den Sinn. Wie würde er diesen Tag verbringen? Dachte er an seine beiden Kinder, von denen keines zu ihm gekommen war? Das eine, weil es nicht mehr konnte, das andere, weil es nicht wollte. Oder verdrängte er jeden Gedanken an sie? Aber konnte man Clärchen überhaupt aus dem Bewusstsein bannen? Die Leidenschaft für Musik hatte sie alle drei unwiderruflich aneinander gebunden. Hatte sein Vater deshalb seine Anlage verkauft, weil er die Schuld nicht ertrug, die er auf sich geladen hatte? Mussten ihn nicht ihre Augen verfolgen, diese haselnussbraunen Augen, die sich so riesig in ihrem zarten Gesicht ausgenommen hatten, die stets noch dunkler, fast schwarz geworden waren, wenn ein Lied, eine Sinfonie oder eine Arie sie im Innersten berührt hatte? Sah er ihre Tränen vor sich? Mussten ihm nicht ihre helle Stimme, ihre Lieder, mit denen sie sich selbst in den Schlaf gesungen hatte, in den Ohren gellen? Und was war mit seiner Mutter? Fühlte sie ihren Verrat oder war sie bereits so abgestorben, dass sie nicht einmal mehr den Verlust ihrer Kinder betrauern konnte? Ach verdammt! Wem halfen diese Gedanken? Ungeduldig erhob er sich, ging zum Plattenspieler und schaltete ihn aus. War heute nichts mit Musik. Er lief hin und her, bis er den Entschluss fasste, sich die Grotte, eine Kneipe schräg gegenüber, anzusehen. Von außen betrachtet sah sie eher verkommen aus. Aber er war neugierig, und der Gedanke, sich abends ab und zu ein Bier genehmigen zu können, ohne dafür noch weit fahren zu müssen, hatte schon etwas für sich. Er warf sich seine Jacke über und verließ die Wohnung.
Als er die Kneipe betrat, schallte ihm die Stimme von Freddie Mercury entgegen. Die Grotte verdankte ihren Namen ihrem Bau, der einer Tropfsteinhöhle nachempfunden war. Über der kleinen Tanzfläche warf eine riesige silberne Kugel das Licht in tausend bunten Facetten an die Wände. Ansonsten war die Beleuchtung eher sparsam, so dass die Nischen und Ecken, in denen Tische und Bänke standen, im Dunkeln lagen. Die Fenster waren mit schweren Holzläden verschlossen. In der hintersten Ecke standen der beleuchtete Billardtisch und ein großes, schweres Kicker.
Harald nahm an der Bar Platz.
Der Mann hinter der Theke nickte ihm zu. „Was darf es sein?“
„Ein Hefeweizen bitte.“
„Neu hier in der Gegend?“
Harald nickte nur. Er sah sich um, während der Barkeeper das Bier einschenkte. In der schummrigen Beleuchtung waberten blaue Rauchschwaden. Auf den ersten Blick fiel die Schäbigkeit der Einrichtung nicht weiter auf. Wenn man jedoch genauer hinschaute, konnte man erkennen, wie heruntergewirtschaftet der Laden war. Der Putz an den Wänden wies Risse auf, Tische und Bänke waren zerkratzt, der asphaltgraue Fußboden wirkte so, als sei er seit Jahren nicht gewischt worden, und die hölzerne Tanzfläche hatte überall Brandlöcher. Das Publikum war sehr gemischt. Er sah jüngere Leute in Jeans und Pullover. Auch seine Altersklasse, Mitte bis Ende Dreißig, war vertreten, einige wie er leger gekleidet, andere mit Lederklamotten, langen Haaren und Tätowierungen. Ein paar ältere Männer wirkten ziemlich heruntergekommenen. Insgesamt erinnerte ihn die Spelunke an seine eigene Jugend. Auch er hatte es damals ziemlich wild getrieben, hatte seine braunen, lockigen Haare wachsen lassen und hatte damit seinen Vater mit dem akkurat gestutzten Haarschnitt zur Weißglut gebracht. Aber der Alte hatte sich nicht mehr getraut, ihn anzurühren, weil er inzwischen mit seinen einmeterundfünfundachtzig genauso groß wie er war. Er sah ihn vor sich mit seinen stahlgrauen Augen, die so kalt und unerbittlich blicken konnten.
Der Barmann stellte ihm sein Getränk hin. „Zum Wohl!“ Er war etwa in Haralds Alter mit einem vernarbten Gesicht und einem blonden Pferdeschwanz, der über seinen halben Rücken hing. Er trug eine schwarze Lederweste über einem grauen Achselhemd. Um den linken Oberarm ringelte sich eine tätowierte Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss, während auf dem rechten ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen prangte.
„Hallo Greg.“ Ein Mädchen mit roten
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