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verwundet (German Edition)

verwundet (German Edition)

Titel: verwundet (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Kühn
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Spinnerei. Die jetzt schlammigbraune Außenfassade, sie mochte einst gelb oder beige gewesen sein, war voller Risse und der Putz blätterte an vielen Stellen ab. Als er die Haustür aufschloss, schlug ihm ein muffiger Geruch entgegen. Er ließ die Tür offen und schob den Keil darunter. Anschließend öffnete er seinen verbeulten Briefkasten, der innen und am Briefschlitz verkohlt war. Anscheinend hatte dort jemand einmal einen Silvesterknaller hineingeworfen. Er schimpfte über die Werbung und warf sie in den alten Pappkarton, der schon überquoll, weil jeder Mieter seine Reklame dort entsorgte. Er würde einen Aufkleber anbringen müssen, dass Werbung nicht erwünscht sei. Allein der immense Papierverbrauch, für den die Natur leiden musste, ärgerte ihn immer wieder aufs Neue. Die ausgetretenen Treppenstufen knarrten, als er in den zweiten Stock zu seiner Wohnung hinaufstieg. Der gelb gestrichene Hausflur war schmuddelig, und die bekritzelten und beschmierten Wände bedurften dringend eines neuen Anstrichs. Die kleine Deckenfunzel gab kaum Licht. Er schloss seine Wohnungstür auf und rümpfte die Nase. Noch immer stank es nach der Farbe und dem Lack, mit denen er die Wände, Türen, Fenster und Heizkörper gestrichen hatte. Er kippte alle Fenster und sorgte für Durchzug. Zufrieden ließ er seinen Blick durch die Wohnung wandern. Mit einer gemieteten Parkettschleifmaschine hatte er die alten Dielen abgezogen, und das Holz mit den weißen Wänden machte die Atmosphäre hell und freundlich. Im Wohnzimmer lehnte ein überfülltes Stehregal an der Wand, bei dem sich schon die Bretter bogen. Den Rest seiner Bücher hatte er auf dem Fußboden stapeln müssen. Das Lesen war immer schon seine Leidenschaft gewesen. Die meisten Bücher kaufte er in Antiquariaten oder auf Flohmärkten. Auch den roten Knautschsessel, den quadratischen Tisch, die Matratze, die im Schlafzimmer auf dem Boden lag, und den alten Garderobenständer, der ihm als Kleiderschrank diente, hatte er auf dem Wochenmarkt am Kaiserplatz erstanden. Er hatte den Händler überreden können, ihm die Sachen gegen ein paar Mark nach Hause zu bringen. In der Küche drängten sich ein Herd, ein Kühlschrank und eine alte zerkratzte Spüle, die er zusammen mit dem kleinen, runden Küchentisch und den zwei Holzstühlen vom Vormieter übernommen hatte. Ihm Gegenzug dafür hatte er auf die Renovierung, die dieser hätte leisten müssen, verzichtet. Er war handwerklich sehr geschickt und hatte die Wohnung ohnehin lieber selbst herrichten wollen. Er ging in die kleine Kammer, in der ein alter kupferfarbener Badeofen und eine Toilette ohne Deckel standen. Die wasserabweisende Farbe war inzwischen getrocknet. Ein Waschbecken gab es nicht, was ihn aber nicht weiter störte. Er war froh, überhaupt ein eigenes Bad zu haben. Viele der Häuser in dieser Gegend hatten noch das Klo auf halber Treppe. Die Wohnung war jetzt fertig renoviert, er hatte viel geschafft. Nun er seinen Feierabend genießen, und dazu gehörte ein starker Kaffee. Im Moment trug er Zeitungen aus, was bedeutete, dass der Wecker um drei Uhr klingelte. Er schaltete die Kaffeemaschine ein und während diese vor sich hin blubberte, schlug er sich Eier in eine Pfanne und briet sie mit etwas Schinken an. Beim Essen las er die Tagesmeldungen und studierte die Stellenanzeigen. Wieder nichts. Kürzlich hatte er sich beim Zoo als Tierpfleger beworben. Über die Absage war er nicht böse. Schon während seiner Ausbildung hatte er sich mit den Tierinspektoren angelegt, weil er die übliche Käfighaltung für Quälerei hielt. Andererseits waren die meisten zoologischen Gärten ähnlich gestaltet, und so viele Möglichkeiten hatte er als Tierpfleger nicht. Er trauerte seinem Job beim Naturschutzverein nach. Drei gute Jahre! Aber das Arbeitsamt hatte die Maßnahme eingestellt. Der Verein hatte kein Geld, um ihn zu bezahlen, und von irgendetwas musste er ja schließlich leben. Seit einigen Tagen arbeitete er zusätzlich bei einer Tankstelle. Solange er keine Stelle in seinem Beruf bekam, musste er mit Jobs dieser Art Vorlieb nehmen. „Ich sollte einmal gründlich über mein Leben nachdenken“, sagte Harald halblaut zu sich, „aber nicht jetzt.“ Er nahm sich den Rest seines Kaffees und ging ins Wohnzimmer. Er suchte eine Platte aus, wischte sie sorgfältig ab, legte sie auf den Plattenteller und setzte die Nadel vorsichtig auf. Den Plattenspieler und seine Schallplattensammlung hütete er wie einen Schatz und hatte sie

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