Verzaubert
Händen und Füßen zu lösen. Sarah konnte ich nicht sehen, aber ich hörte sie direkt vor mir. »Alice!«, rief sie. »Komm, Alice! Friss den Dämon. Du hast doch Hunger, Süße. Komm schon, Alice!« Dixie und Clarisse hatten neben dem Altar Stellung bezogen, jede mit einem Kerzenständer bewaffnet. Dixie schrie, Clarisse zitterte und hatte Angstschweiß auf der Stirn. Ich folgte dem Blick der beiden. Kerzenständer würden dieses Ding nicht stoppen, nicht einmal gusseiserne. Und vermutlich auch kein hungriger Tiger.
Mein Herzschlag setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus und ich hielt wie erstarrt die Luft an, als dieses Ding, das Hieronymus beschworen hatte, aus Nebel, Rauch und Feuer Gestalt annahm. Es erhob sich zu seiner vollen Größe – etwa zweieinhalb Meter schätzte ich (und war überrascht, noch so klar denken zu können) – und grinste uns an. Dixie, Clarisse und ich wichen japsend zurück. Von den Reißzähnen tropfte grüner Speichel herab. Sein klumpiges rotes Fleisch glühte wie von einem inneren Feuer. Die langen Arme endeten in riesigen Klauen. Sein Atem stank nach Tod und Verwesung.
»Seht nicht hin«, sagte ich zu Dolly und Samson.
»Alice! Komm und friss den Dämon! Komm schon!«, feuerte Sarah den Tiger an.
Avorapek knurrte uns an. Es war ein tiefes, bedrohliches Grollen, das von den Wänden zurückhallte. Dann erblickte der Dämon Lysander. Das Biest blähte sich vor Freude auf und grapschte nach ihm.
Ohne nachzudenken, schlug ich den Kerzenständer mit aller Kraft auf den dicken hässlichen Arm.
Das schien das Vieh zu ärgern. Es zog seine Klaue zurück.
»Schlag noch mal zu!«, schrie Lysander. »Schlag noch mal zu!«
»Das mit der Keuschheit war eine Schnapsidee!«, rief ich dem Zauberer zu. »Hören Sie? Eine ganz miserable Idee!«
Dixie versetzte dem Biest ebenfalls einen Hieb. Mit einer einzigen Armbewegung schleuderte es uns quer durch den Raum. Aber es hätte schlimmer kommen können. Schließlich hatte es uns nicht gefressen.
»Keuschheit!«, wiederholte ich und rappelte mich hoch. »Natürlich!«
»Was?«, rief Dixie.
Ich versuchte mich zu orientieren. Der Raum war noch immer derart vernebelt, dass ich kaum etwas erkennen konnte. Besonders nicht einen reglos auf dem Boden liegenden Haufen. Doch während Clarisse tapfer auf den zweieinhalb Meter großen, fleischfressenden Dämon einschlug, sah ich, wonach ich suchte.
Ich zerrte Dixie mit mir. »Schnapp dir den anderen Arm!«, wies ich sie an, und gemeinsam schleiften wir Hieronymus hinüber zum Altar. »Hey! Avorapek! Sieh her!
Vide!
« Ich war ziemlich sicher, dass das auf Lateinisch so etwas wie
Sieh her
bedeutete. Nicht etwa, dass ich Grund zu der Annahme hatte, dass Avorapek des Lateinischen mächtig war. »Eine Jungfrau!«
Wenn sich Lysander derart »rein« hielt, hätte ich meinen letzten Heller darauf verwettet, dass ein machtgieriger Blödmann wie Hieronymus es auch tat. »Eine Jungfrau!«, wiederholte ich. »Ein hübscher, reiner, jungfräulicher, teuflischer Irrer! Direkt hier! Komm schon, hol ihn dir! Ganz nach deinem Geschmack, und viel jünger als der alte Knochen da. Lecker!«
»Geschafft!«, rief Dolly, die endlich eine von Lysanders Fesseln gelöst hatte.
»Ich auch!«, rief Samson und hielt ein weiteres Seil in den Händen. Lysander sprang vom Altar – und knallte auf den Boden. Er war noch immer mit einem Fuß an den Altar gefesselt.
»Macht mich los!«, schrie er.
»Wie wäre es mit ein bisschen Unterstützung?«, blaffte ich ihn an. »Ich versuche gerade einen Dämon von einem kleinen Schäferstündchen mit Ihnen abzuhalten!«
»Oh!« Er warf einen Blick auf Hieronymus, der wieder anfing sich zu regen. Der Zauberer gestikulierte schwach mit den Händen und rief etwas auf Latein. Hieronymus’ Körper flog aus unseren Armen direkt in die Hände des Dämons.
»Großartig!«, rief ich.
»Das löst nicht unsere Probleme«, sagte Samson, der sich gemeinsam mit Dolly an Lysanders letzter Fessel zu schaffen machte.
»Er hat recht!«, schrie Clarisse, die immer noch ihren Kerzenständer vor dem Biest hin und her schwang. »Sobald er mit der Jungfrau fertig ist, wird er Hunderte von Leuten verspeisen wollen. Und wir sitzen hier mit ihm fest!«
»Verdammt! Irgendetwas ist auch immer!« Ich biss mir auf die Unterlippe und überlegte, was zu tun war.
Dolly bekam Lysanders Fuß frei. »Ja!«
»Kommt schon!«, rief ich. »Wir ziehen uns zurück!«
Geschlossen wichen wir in den anderen Raum
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