Verzeihen
Walkmen liefen. Das wusste er alles. Doch er sah es nicht. Nicht jetzt. Nicht hier. In diesem Zug. In diesem Abteil.
Auf diesem Platz. Gegenüber der Frau.
So weit er zurückdenken konnte, sah er seine Mutter mit einem Buch in der Hand. Und sie las nicht nur Theaterstücke. Auch Romane. Und besonders gern Gedichte. Und er machte einen Deal mit ihr. Niklas war erst drei oder vier. Aber er meinte es ernst. Wenn er herumtobte, Spielzeug an die Wand warf, weil er testen wollte, ob es stabil genug war, oder die Badewanne voll laufen ließ, um das Wasser mit Wasserfarben zu färben, und wenn daraufhin seine Mutter vergeblich versuchte ihn zur Ruhe zu bringen und er erst recht störrisch wurde, dann schlug er ihr ein Geschäft vor. Falls sie ihm eine Stunde lang Gedichte vorlas und währenddessen nicht ans Telefon ging, würde er alles aufräumen oder die Badewanne eigenhändig sauber machen.
Am Anfang hatte Hella Schilff nicht daran gedacht mit ihrem Sohn zu verhandeln. Sie schaffte es auch so sich durchzusetzen. Und er war nicht halb so gewitzt und ausdauernd, wie er vorgab. Eines Tages jedoch, es war Sommer, erinnerte sich Schilff plötzlich auf seinem Platz in der S-Bahn, zog sie die Stirn in Falten. Und sah grübelnd auf ihn hinunter. Er hockte auf dem Rand der Badewanne. Die war halb voll mit kuriosfarbenem Wasser, dessen Grundton sich ständig veränderte.
Wieso soll ich dir ein Gedicht vorlesen?, fragte Hella Schilff.
Wie immer hatte sie ein Buch in der Hand und ihre roten Haare hochgesteckt. Und Niklas konnte die Sommersprossen an ihrem weißen Hals sehen. Und dieser Anblick kam für ihn gleich nach dem Blick ins Nachthemd, wenn sie sich morgens über ihn beugte, um seinem Vater über das Gesicht zu streichen.
Nicht ein Gedicht, sagte Niklas, viele Gedichte, eine Stunde lang!
Und dann räumst du auf und schrubbst die Wanne sauber? Niklas nickte. Und schlug mit den Sandalen gegen die Wanne.
Die kurzen schwarzen Haare standen ihm vom Kopf ab. Sein schmales, knochiges Gesicht war schweißüberströmt. Manchmal sorgte sich seine Mutter um seine Gesundheit. Sie fand ihn zu dürr. Zu blass. Zu still.
Aber vorher musst du mir eine Stunde vorlesen, sagte Niklas.
Nein. Dann nicht! Selber schuld!
Eine Stunde ist zu lang, sagte Hella Schilff mit zusammengekniffenen Augen. Eine Viertelstunde, mehr Zeit hab ich nicht.
Eine halbe Stunde!, rief Niklas. Und schlug mit den Sandalen fester gegen die Wanne. Du liest doch sowieso die ganze Zeit.
Ich lerne Text für ein neues Stück.
Spielst du wieder Theater?, fragte Niklas laut. Und seine großen Augen leuchteten schwarz.
Lenk nicht ab!, sagte sie.
Eine halbe Stunde! Jetzt war er es, der die Stirn in Falten legte.
Was er noch nie getan hatte. Gut, sagte sie. Er riss die Augen auf.
Die Frau saß da, eine Plastiktüte auf den Knien. Sie las in einer Zeitung. Und beachtete ihn nicht.
»Hallo«, sagte er ohne es zu wollen.
Die Frau warf ihm einen Blick zu. Und las weiter.
Ein für ihn bis zu dieser Sekunde unvorstellbarer Satz schoss ihm durch den Kopf. Unfähig es zu verhindern dachte er: Ich bin zu Hause.
Danach sackte sein Kopf auf die Brust. Und er schlief ein.
Ein Hund weckte ihn. Ein pergamentfarbener Pitbull, der seinen Maulkorb gegen Schilffs Wade stieß. Schilff schreckte hoch. Der Hund knurrte. Sein Besitzer, ein Mann mit einem Wildlederhut auf dem Kopf, spitzte die Lippen.
»Brav, Sinto, ganz brav!«
In diesem Moment bemerkte Schilff, dass er aussteigen musste.
Er griff nach dem Koffer. Hob die Beine, um über den Hund zu steigen. Und wurde von einem Fahrgast angerempelt, so dass er gegen die Haltestange fiel. Mit der Fußsohle streifte er den Rücken des Pitbulls. Der fing sofort zu bellen an.
»Brav, Sinto, ganz brav.«
Der Hut des Hundebesitzers erinnerte Schilff an einen Trapper.
Er hatte ihn in San Diego getroffen. Ein verschlagener Kerl, der mit Marihuana handelte. Und gelegentlich Auftragsmorde verübte. Das hatte er in dem Interview behauptet.
Mit dem Koffer voran bahnte sich Schilff den Weg durch die Menge. Hunderte von Menschen drängten sich auf dem S-Bahnsteig des Hauptbahnhofs. Die meisten hatten volle Einkaufstaschen dabei. Und waren sich selber zuwider.
Er las in ihren Augen. Er las ihre Gesten. Sie keuchen durch ihren Scheißalltag. Der sich nie ändert. Und das wissen sie. Sie wissen es jeden Morgen, wenn sie aufwachen. Von schwachsinnigen Träumen gequält. Aus dem Schlaf gespuckt wie ein Stück faules Obst.
Der Anblick hastig
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