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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Schirme auf, die sich ineinander verhedderten.
    »Welche Tram?«, fragte Süden. Und legte wieder das Ohr auf die Schiene.
    »Entschuldigung!«
    Heuer war näher gekommen.
    »Sie, ham Sie ein Handy?«
    »Nein«, sagte Heuer.
    »Hat jemand ein Handy, die Polizei muss jetzt her!«
    »Schon da!«, sagte Heuer. Und zeigte seinen grünen Ausweis.
    »Dann nehmen S’ den Mann da weg, der blockiert ja alles. Sperren S’ den ein!«
    »Nein«, sagte Heuer, »das ist mein Kollege. Der trainiert für ›Wetten, dass‹.«
    Jemand lachte.
    Heuer trat seine Zigarette aus. Und vergrub die Hände in den Taschen seiner Daunenjacke. »Er wettet, dass er am Klang erkennen kann, welche Straßenbahn als nächste kommt.«
    »So ein Schmarrn!«
    »Warten Sies ab!«
    Und wirklich sahen jetzt alle in die Richtung, aus der die nächste Bahn kommen musste.
    »Das schafft der nie!«
    »Das ist doch Betrug!«
    »Das glaub ich nicht, er schaut ja in die andere Richtung.«
    Da sprang Süden auf. Trat von den Schienen. Und hielt sich die Augen zu. Die schulterlangen Haare klebten ihm am Kopf. Wie er so dastand, breit und gekrümmt, in seiner an den Seiten geschnürten Lederhose und der braunen Lederjacke, hielten ihn manche für einen unberechenbaren Raufbold, der sich bloß wichtig machte. Und es darauf anlegte, provoziert zu werden.
    »Linie 18«, sagte Süden. Alle wandten den Kopf. Keine Bahn in Sicht.
    »Ham Sie eigentlich sonst nix zu tun, ha?«
    »Doch«, sagte Heuer.
    Aus der Bayerstraße war ein Klingeln zu hören. Süden schob die Leute auseinander. Sah zur Straßenbahn, die an der Ampel losfuhr, um in die Sonnenstraße einzubiegen. Und er lachte laut auf. Mit dem Kopf im Nacken lachte er in den alternden Himmel hinauf. Laut und unaufhörlich. Er stapfte mit den Füßen. Und schwenkte die Arme. Und es regnete in seinen Mund.
    So abrupt er begonnen hatte, hörte er auf. Die Leute schüttelten den Kopf. Zeigten ihm einen Vogel. Und beeilten sich, die Tram zu erwischen. Linie 18.
    »Was ist mit dem los?«
    »Der spinnt.«
    »Er übt für ›Wetten, dass‹!«
    Durch das Untergeschoss gelangten die beiden Kommissare zur Bayerstraße. Bis zum Dezernat waren es nur wenige Meter. Es war kurz nach sechzehn Uhr.
    »Ich geh im Bahnhof was trinken«, sagte Süden.
    »Ich hol Sonja.«
    Süden überquerte die Straße, Heuer ging geradeaus weiter.
    Zwischen den Taxis vor dem Westeingang des Hauptbahnhofs blieb Süden stehen und fuhr sich mit den Händen durch die nassen Haare.
    Anstatt den Bericht über die Vernehmung von Edith Leu zu schreiben und seine Beobachtungen in der Wohnung des verschwundenen Malers zu ordnen, ging er wie so oft in das verräucherte Bahnhofsbistro. Setzte sich an die Theke. Und bestellte ein Bier.
    Nachher würden Heuer und Sonja kommen. Und sie würden gemeinsam etwas trinken. Er saß gern an einem Ort, an dem Fremde verkehrten, mit zwei Freunden an seiner Seite. Seinen einzigen Freunden. In den vergangenen zwanzig Jahren war er zu viel allein gewesen, um Beziehungen aufzubauen, Bande zu knüpfen mit Menschen. Er nannte sich einen geselligen Einzelgänger. Und das stimmte nicht wirklich: Er war nicht gesellig.
    Er hatte gelernt teilzunehmen. Und Anwesenheit zu simulieren.
    Und das genügte ihm.
    Und vor einem Jahr hatte er Sonja kennen gelernt. Und es gab Morgen, da wachte er neben ihr auf und hielt es für möglich, dass er sie liebte.
    »Ihr Bier, Herr Kommissar.«
    Er trank einen Schluck. An den Tischen mit den Baststühlen saßen vereinzelt Gäste. Starrten vor sich hin. Blätterten in der Zeitung. Tranken Schnaps. Stützten den Kopf in die Hand. Versanken in tausendmal geübtem Schweigen.
    Auf dem Barhocker, auf dem Süden saß, hatte vor zwei Tagen eine Frau geweint.
    Die Tränen ließen ihre Wangen erglühen. Ihre Stirn. Ihre Lippen.
    »Möchten Sie was trinken?«, fragte Niklas Schilff.
    Noch immer flossen Tränen aus den Augen der Frau. Sie ließ es geschehen. Sie hatte nicht die Kraft sich dagegen zu wehren.
    Die schwarze Brille flatterte in ihrer zitternden Hand. Noch immer atmete sie mit offenem Mund.
    »Zwei Wodka«, sagte Schilff zu einem der Köche hinter der Theke, einem Asiaten.
    »Ich heiß Niklas.«
    Er erhielt keine Antwort.
    Jetzt blinzelte die Frau. Mit großer Anstrengung schob sie den Unterkiefer nach oben. Und bevor die Lippen sich berührten, endete die Bewegung. Sie nahm einen Ausdruck kindlicher Verwunderung an. Sie ließ die Hand mit der Brille sinken.
    Obwohl die Musik weiterspielte, hatte

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