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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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in der Nähe ist, maulen und jammern und greinen und ziehen wieder ab und fangen an, Lügen zu verbreiten. Die Lügen, die dann überall nachgebetet werden und die alle glauben. Frustmist! Kinderkacke!«
    Auf dem Boden zersplitterte ein Glas. Schilff fegte einen Aschenbecher vom Tisch. Der landete wie gezielt auf dem einzigen Kissen, das auf der Bank lag.
    Immer noch bewegte sich Iris nicht von der Stelle. Sie bemerkte nicht einmal Tonis Blicke. Er und sein Freund schauten starr über die Schulter. Anstatt sich umzudrehen. Wie festgeschraubt in Schilffs Geschrei.
    Dabei brüllte Schilff die Luft an. Er sah niemanden an. Er ging hin und her. Schleifte mit den Schuhen über den Boden. Und ruckte mit der Schulter. Rempelte unsichtbare aufdringliche Nebenbuhler an.
    »Ich hab nie gelogen! Ich nicht, ich hab nicht gelogen, ich war aufrichtig, ich hab die Wirklichkeitsvorstellungen meines Publikums bedient. Und zwar gut. Und zwar phantastisch! Ich hab die Wirklichkeit für sie inszeniert, für euch, für euch hier…«
    Er sah niemanden an.
    »Und sie haben mir meine Geschichten aus der Hand gerissen, ich war der Einzige, der so schrieb, das traute sich sonst niemand, und die wussten das! Das wussten die von Anfang an!
    Wir hatten eine Verabredung, kein Papierkram, wir gaben uns die Hand, das musste genügen. Heut will der Mann nichts mehr davon wissen. Erst engagieren sie einen Künstler und dann wollen sie ihm die Phantasie verbieten! Ist das nicht arm? Aber der Irrwitz ist, der Irrwitz ist…«
    Er holte aus. Und Iris dachte, er würde die Schälchen mit dem Knabbergebäck vom Tresen fegen. Doch er hielt in der Bewegung inne. Sein Arm hing schräg in der Luft, die Hand zur Faust geballt. Was Iris seltsam nachsichtig stimmte. Die Faust kam ihr jetzt weniger bedrohlich vor.
    Vielmehr rührend. Als stünde ein zorniges, vom eigenen Furor überfordertes Kind vor ihr, das auf einmal ratlos war.
    Zum zweiten Mal ließ Schilff die flache Hand auf den Tresen knallen. Und schlug mehrmals darauf. Schrie weiter. Allmählich bekam seine Stimme Risse.
    »Der Irrwitz ist, sie glauben, es gäb eine für alle gültige Wirklichkeit! Eine einzige! Für alle! Gibts nicht! Gibt keine für mich und für dich und für sonst wen! Wir haben jeder unsere eigene, kapierst du das?«
    Iris war nicht klar, wen er meinte. Er hatte sich weder an sie noch an Toni oder Rudi gewandt.
    »Das ist die Wahrheit! Briefe haben sie mir geschrieben, Faxe, E-Mails, hab ich alle weggeworfen, seitenlange Hymnen! Wunderbar! Hab ich alles weggeworfen! Bullshit! Bullshit!«
    Er hustete. Drehte sich um. Und sah Toni und Rudi an, die eine Weile brauchten, bis sie reagierten. Dann nickten sie gleichzeitig. Was immer sie damit ausdrücken wollten, Schilff schien ihrer Meinung zu sein. Er nickte ebenfalls. Und zeigte mit dem Finger auf die beiden.
    »Was gegen die trockene Kehle?«, fragte Iris. Sie hatte den Eindruck, alles zitterte. Und klirrte. »Hör mal…« Ihr fiel sein Name nicht mehr ein.
    Mit drei Schritten ging Schilff von einem Ende des Tresens zum anderen. Sein rechter Handrücken schleifte über das Holz. Ein Pflaster an seinen Fingern löste sich. Und eine Blutspur entstand.
    Das Gesicht Iris zugewandt, hämmerte er unaufhörlich mit beiden Handrücken auf die Theke. Auch die Pflaster an seiner linken Hand rissen ab. Die Wunden platzten auf. Und er hämmerte weiter. Weiter. Und hörte nicht auf zu sprechen.
    Er schrie nicht mehr. Er krächzte. »Ich hab nichts aufgehoben, bloß ein paar Artikel. Und die schmeiß ich auch noch weg. Und die Scheißmundharmonika.«
    Mit blutverschmierten Handrücken trommelte er auf den Tresen. »Nur das Messer heb ich auf. Hat mir Alice geschenkt, Alice McAllister. Klingt wie ein Künstlername, ist aber echt. Echt! Echter Name. Alice McAllister. Sie hatte indianische Freunde, bei denen kaufte sie ein. Das Messer brauch ich noch! Ich bin wieder hier!«
    Lächelte er? Iris kniff die Augen zusammen.
    »Willst du nicht endlich damit aufhören?«, sagte sie.
    »Nein!«, schrie er. Fast so laut wie zuvor. »Nein!«
    »Entweder du hörst jetzt auf oder…«
    »Keine Polizei, bitte, bitte…«, sagte er leise. Und dann grinste er. Und hob wieder die Arme. Und ließ die Hände mit voller Wucht auf den Tresen fallen.
    Jetzt war es still.
    Die beiden Spielautomaten neben dem Fenster blinkten. Draußen fuhr ein Auto vorbei. Rudi und Toni gaben keinen Laut von sich. Unverändert saßen sie da. Den einen Arm auf die Bank gestützt, die

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