Verzeihen
Eingeweide.
Die Schamhaare hatte er sich mit einer Nagelschere abgeschnitten. Nicht alle. Die meisten. Sein Rasierapparat war kaputt. Das machte ihn zornig. Das hatte ihn vorhin so zornig gemacht, dass er das Messer über die Knöchel seiner Hand gezogen hatte. Fabelhaft synchron platzten die alten Wunden auf, und das Blut floss über seine graue Haut in die Badewanne.
But people don’t live or die, people just float.
She went with the man in the long black coat…
Eines stand fest: Er würde nicht sterben. Nicht auf die rasche Art jedenfalls. Seine Absicht war nicht zu verbluten.
Ganz gleich, wie groß die Schmerzen sein würden, er wollte diese Badewanne lebendig verlassen. Das war ein klarer Gedanke. Er presste die Lippen aufeinander. Und ritzte. Und schnitt. Und atmete heftig.
Und dann schleuderte er das Messer von sich. Es klackte gegen die Fliesen und fiel vom Wannenrand auf den Boden.
Sein Herz raste. Er zog die Beine an. Und bildete sich ein, die Schmerzen ertragen zu können. Er schaffte es nicht, die Lippen noch fester aufeinander zu pressen. Er musste schreien. Und er schrie.
Seine Stimme hallte von den Wänden wider. Er spuckte aus.
Tränen schossen ihm in die Augen. Mit unglaublicher Mühe tastete er nach dem Wasserhahn. Drehte ihn auf. Ein eiskalter Strahl prasselte auf sein Geschlecht. Vor Schreck zog Schilff die Hand weg. Und der harte Wasserstrahl hagelte in seine Wunden.
Nicht sterben. Er würde nicht sterben. Er blutete. Das war alles.
Die Schmerzen würden vergehen. Und bevor die Wunden heilten, würde er sie erneut aufreißen. Das war alles. Er starb nicht.
Nicht so. Der Polizist hatte Recht. Ich bin verratzt, verratzt.
Verratzt.
Und er dachte daran, wie er sich in der Kneipe in die Hose gepisst hatte. Und ihn überkam ein solcher Ekel, dass er sich übergeben musste. Auf seine Beine. Auf seine Hände. Und das schneekalte Wasser spülte das Blut und das Erbrochene in den Abfluss.
Mit der Ermordung seiner Vergangenheit war er einen entscheidenden Schritt vorangekommen.
13
N achdem Iris das ganze Wochenende auf sie eingeredet hatte, ging Ariane Jennerfurt am Montagnachmittag zu dem Treffen der Frauen. In einem hellen Zimmer saßen sie im Kreis. Und hörten einander zu. Einige der acht Frauen, die zwischen zwanzig und sechzig Jahre alt waren, sahen sie misstrauisch an. Zwei Frauen saßen auf großen Gummibällen.
»Würde es Ihnen was ausmachen, sich vorzustellen?«, sagte Dr. Sibylle Forster, die Ärztin und Therapeutin, mit der Ariane schon gesprochen hatte. Aus einem Nebenraum hatte Dr. Forster einen Klappstuhl geholt und ihn neben sich gestellt. Ariane nahm auf ihm Platz. Sie hatte immer noch ihren Mantel an und wusste nicht, wohin mit ihrer Umhängetasche. Schließlich stellte sie sie zwischen ihre Füße. Spürte wieder die kritischen Blicke. Und legte die Tasche neben den Stuhl. Als würde das an der Situation etwas ändern.
»Sie brauchen nicht nervös zu sein.«
Die Ärztin trug eine helle Bluse und einen roten Wollschal.
Ariane gefiel die entspannte Art, wie sie dasaß, in die Runde lächelte und jede Frau mit demselben Wohlwollen und derselben Aufmerksamkeit zu betrachten schien.
»Ich heiß Klara«, sagte eine der Frauen. Ariane hatte nicht aufgepasst, welche es war.
Dr. Forster schlug die Beine übereinander und machte ein ernstes Gesicht.
»Das ist Ariane Jennerfurt.« Für einen Moment berührte sie Ariane an der Schulter. »Vielleicht wär es gut, eine von euch erzählt etwas, bevor wir unsere Neue zu Wort kommen lassen.«
Den Ausdruck mochte Ariane nicht: unsere Neue.
»Ihr könnt Jenny zu mir sagen.«
Wieso hatte sie das gesagt? War sie verrückt geworden? Sie wollte nicht, dass jemand Jenny zu ihr sagte! Nie mehr wollte sie das! Was war los mit ihr?
»Okay, Jenny«, sagte die Ärztin.
Sie machte eine Pause. Niemand sagte etwas. Ariane hätte gern gewusst, was sie verbrochen hatte. Was hatte sie hier verloren? Was sollte sie von den Weibern lernen? Lustig sein?
»Vielleicht erzählt jemand einen Witz«, sagte Dr. Forster.
Ariane schaute ihr ins Gesicht. Trieben die Weiber ein gemeines Spiel mit ihr? Sie hatte Lust aufzustehen und zu gehen.
»Ich glaub, ich komm ein andermal wieder«, sagte sie. Das war eine Lüge. Sie wollte nicht unhöflich sein.
»Ich weiß einen«, sagte eine der Frauen.
»Dann los, Klara!«, sagte die Ärztin.
Jetzt sah Ariane die junge Frau an. Sie war um die dreißig, hatte kurze blonde Haare und ein rundes, sehr blasses
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