Verzeihen
fertig, mein Bruder, dieser Lackaffe, und meine Mutter, die Hysterikerin. Das ist Scheiße. Und du musst diese Tabletten nehmen, und dann dreht dein Magen durch, und du kriegst Kopfschmerzen und Hautausschlag und all den Scheiß. Manchmal denk ich, ich erstick von den Scheißtabletten. Aber ohne gehts nicht, ohne ist noch mehr Scheiße…«
Ariane fiel auf, dass nicht nur sie aufmerksam zuhörte. Auch die anderen Frauen, sogar Elfie, wirkten konzentriert, neugierig. Und bestimmt hatten sie Klaras Geschichte schon oft gehört.
»Ehrlich, ich hab inzwischen fünfzig Ordner zu Hause rumstehen, mit lauter medizinischem Zeug drin, ich kenn mich aus.«
Sie rauchte. Wippte auf dem Ball. Drückte die Zigarette aus.
Und behielt den Aschenbecher in der Hand. »Aber das hat auch keinen Sinn. Auf alle Fälle bin ich froh, dass ich keine Depressionen mehr hab, jedenfalls selten, ich hab auch keine Zeit dafür, ich muss mich um Andi kümmern, und mein Mann, der arbeitet bei einem Wachdienst, der verdient manchmal mehr, manchmal weniger, ich helf dann in einer Schreinerei aus, ich hab mal eine Lehre gemacht. Aber dann…«
Mit dieser Erinnerung wollte sie jetzt deutlich nichts zu tun haben. Sie drehte sich hastig um. Und stellte den Aschenbecher auf den Tisch hinter sich.
»Am Anfang bin ich mir aussätzig vorgekommen«, fuhr sie fort. Und klopfte mit den Händen auf den Ball. »Aber dann hab ich Sibylle getroffen, und das war meine Rettung, hier…« Sie schaute in die Runde. Und bedachte Elfie mit einem mitfühlenden Lidschlag.
Nach einem längeren Schweigen wandte sich die Ärztin erneut an Ariane. »Haben Sie mit jemand über Ihre Krankheit gesprochen?«
Ariane nickte.
»Mit ihren Eltern?«
Ariane schüttelte den Kopf.
Ihrer Mutter davon zu erzählen käme ihr vor, wie nackt über den Marienplatz zu laufen. Paula Jennerfurt würde ihre Tochter verachten. Sie würde mit dem Finger auf sie zeigen. Und sagen, dass das nun die Strafe sei, die eine Nutte verdient habe.
Was willst du, glaubst du, ich lass zu, dass die Leute über mich reden? Schlimm genug, dass du mich nie besuchen kommst und ich dauernd lügen muss, mein ganzes Leben. Ausgestiegen! Du kannst mich nicht austricksen, ich bin nicht verkalkt.
Einmal Nutte, immer Nutte. Was passiert da im Hinterzimmer von eurer Kneipe, halten sich da junge Paare an der Hand? Und was, wenn du krank wirst? Soll ich dich pflegen, und alle kriegen mit, was das ist, was dir fehlt? Du hast dir dein Leben selber ausgesucht, also komm damit klar! Und wasch ja das Geschirr ab, das du benützt hast. Ich will nicht, dass da was rumsteht, wo dein Speichel dran war. Ich kann dir gar nicht sagen, wie mich das anekelt. Was für ein Glück, dass dein Vater das nicht mehr erleben muss, der hätt sich totgegrämt.
Ariane kannte jedes Wort im Voraus. Doch dass ihr Vater sich totgegrämt hätte, das stimmte nicht. Er hätte versucht sie zu verstehen. Er hätte sie nicht verstoßen. Er hätte ihr zugehört.
»Mit meiner besten Freundin«, sagte Ariane. Und alle neun Frauen sahen sie an.
Vom Friedhof, wo sie das Grab ihres Vaters besucht hatte, war sie mit der U-Bahn zurück in die Innenstadt gefahren.
Und nachdem die Polizisten gegangen waren, hatte sie in der Küche angefangen zu erzählen. Doch da war etwas, das sie verschwieg. Das sie nicht aussprechen konnte. Das sie erst selber begreifen musste.
»Aber…«, sagte Iris.
Ariane machte eine Pause und goss sich ein Glas Orangensaft ein.
»Wer… wer wars? Mit wem hast du denn… du hast mir überhaupt nicht gesagt, dass du mit jemand geschlafen hast…« Iris kam sich unbeholfen bei diesen Fragen vor. Im Kühlschrank stand eine halb volle Flasche polnischer Wodka. Sie trank einen doppelten. »Wer, Ariane? Wer war es?«
Nicht so direkt, aber ebenso eindringlich hatte Dr. Forster ihr diese Frage gestellt. Und Ariane hatte keine Antwort gegeben.
Ihrer besten und einzigen Freundin hätte sie eine Antwort geben müssen. Sie traute sich nicht.
»Sags mir!«
Iris stand vor ihr, das Wodkaglas in der Hand. Die Haare achtlos zusammengebunden. Nach Rauch und Parfüm riechend.
Ariane schaute durch sie hindurch. Ursprünglich hatte sie alles sagen wollen. Alles aussprechen, was sie niederdrückte und in grässliche Zustände versetzte, seit sie an jenem Mittwoch den Anruf erhalten hatte. Von dieser Minute an schien etwas ihr Leben wie mit einer Häckselmaschine zu zerkleinern. Es zerbarst in winzige Teile, die nie wieder zusammenpassen, nie
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