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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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skurrilen Angewohnheiten. Süden hatte die Fähigkeit einen Menschen wie eine Landschaft zu sehen, die sich ständig veränderte und deren Geheimnis unergründlich blieb.
    Von seinem Vater hatte er gelernt zu schauen und zu schweigen. Alles andere sei Theorie. Branko Süden war der Auffassung gewesen, dass sich jeder Mensch früher oder später von selbst offenbart, wenn man nur geduldig genug ist und dem Licht vertraut, das er ausstrahlt oder verdunkeln möchte.
    Am Anfang seiner Laufbahn hatte Süden versucht, mit Kollegen darüber zu sprechen. Sie hielten ihn für einen romantischen oder schlimmstenfalls esoterischen Spinner angesichts der technischen Möglichkeiten, mit denen Täter heutzutage überfuhrt werden konnten. Jahre später, als er als Fahnder in der Vermisstenstelle beachtliche Erfolge vorzuweisen hatte, nannten ihn einige Journalisten den Seher. Kollegen hatten sich an die alten Gespräche erinnert und sie kolportiert. Das ärgerte ihn nicht. Er blieb bei seinem Programm, auch wenn er es um einen Punkt erweitert hatte: In manchen Situationen fing er an, von sich zu erzählen, Dinge, die scheinbar nichts mit der aktuellen Vernehmung zu tun hatten. Um sein Gegenüber zu verwirren und zu ungewollten Aussagen zu verleiten. Und um sich selbst zu entspannen.
    Dabei langweilte Tabor Süden nichts mehr als seine eigene Biografie. Es war schon vorgekommen, dass er seinen Geburtstag vergessen hatte und erstaunt darüber war, morgens auf seinem Schreibtisch eine Torte vorzufinden.
    Manchmal wunderte er sich geboren zu sein. Dann fielen ihm die Worte seines Vaters wieder ein. Und er dachte, vielleicht sollte ich nur schauen und schweigen, um auf diese Weise etwas über mich und den Grund meines Seins in der Welt herauszufinden. Und für die Stunde seines Todes hoffte er auf eine funktionierende Stimme. Er wollte dann singen wie die Kasachen, die sich von den Menschen wegdrehen, wenn sie sterben.
    Vielleicht war es das, weshalb er hier war: seine Melodie zu finden.
    Nein. Er war hier, um Niklas Schilff zu beschatten. Falsch. Er war hier, weil er seiner Intuition folgte. Und weil er sich darauf etwas einbildete. Und weil er nicht schlafen konnte.
    Er ließ das Fenster heruntergleiten und atmete die kalte Luft ein. Dann griff er nach hinten und nahm eine grüne Kladde vom Rücksitz.
    In einer Schublade im Schlafzimmerschrank hatte er Arianes Tagebücher entdeckt.
    »Jetzt lebe ich wie in einer anderen Welt, als habe jemand beschlossen, dass es einen Ausweg für mich geben soll. Für Iris ist alles nur konsequent und eine Sache der Arbeit und des Geldes natürlich, für mich ist es zudem ein Wunder. Ich bin glücklich, deshalb schreibe ich solche Sachen, das ist lange her, seit ich zum letzten Mal glücklich war, und wenn ich genau nachdenke, weiß ich nicht, ob ich jemals vorher glücklich war.
    Manchmal hat ein Kunde zu mir gesagt, er sei jetzt glücklich, dann habe ich gelächelt, das war im Preis mit drin. Enzo hatte uns verboten zu lächeln, er sagte, wir sollen freundlich sein, das reicht. Und er hatte Recht. Man darf sein Lächeln nicht verkaufen. Habe ich nicht getan, ich habe es verschenkt, und auch nur kurz. Diese Männer kommen zu uns, sie trösten sich bei uns, sie bekommen eine andere Welt von uns.
    Von mir nicht mehr. Ich bin jetzt Wirtin von Beruf, wir haben eine Zulassung, Iris und ich, ich betreibe ein ordentliches Gewerbe. Das war großzügig von Paulus, dass er sich bei der Brauerei für Iris eingesetzt und gute Konditionen ausgehandelt hat. Ohne ihn hätten wir das »Glücksstüberl« nicht bekommen, zwei Exhuren sind keine Geschäftspartner in der wirklichen Welt, daran ändert sich auch im einundzwanzigsten Jahrhundert nichts. Und Paulus wusste, was wir vorher gemacht haben, er war einer von Iris’ besten Kunden, sie mag ihn, er gehört zu den Anträgeverteilern. Mindestens fünfmal hat er Iris gefragt, ob sie ihn nicht heiraten und aussteigen und ein neues Leben mit ihm anfangen will. Sie hat immer abgelehnt, weil sie mit ihrem Leben gut zurechtkam. Und dann bot er ihr plötzlich das Lokal an, und er sagte, er wolle keine Gegenleistungen dafür.
    Iris fragte mich, was ich dazu sage, und ich habe sie zuerst nicht verstanden. Ich weiß nicht, ob ich mir in den vergangenen Jahren ernsthaft Gedanken darüber gemacht hatte aufzuhören und auszusteigen. Wohin steigen? Man kann nicht einfach aus seinem Leben aussteigen wie durch ein Fenster, und dann liegt da eine neue Straße, und man braucht bloß

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