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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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drogensüchtig?«
    »Nein.«
    »Dann hat sie sich bei jemand angesteckt.«
    Iris hielt Ausschau nach Zigaretten. Entdeckte eine angebrochene Packung auf dem Regal bei den Gewürzen. Steckte sich eine Zigarette in den Mund. Süden nahm das Feuerzeug vom Tisch.
    »Danke«, sagte sie und blies den Rauch an ihm vorbei.
    »Wir haben die letzten zwei Jahre jeden Tag hier gearbeitet, und wenn sie spät nachts einen Mann getroffen hätt und mit ihm in die Kiste gegangen wär, hätt sie mir bestimmt davon erzählt.«
    »Es muss einen gegeben haben.«
    »Ich kenne ihn nicht.«
    »Das wäre dann ein Widerspruch«, sagte Süden.
    Darauf schwieg sie. Sie hatte die ganze Nacht nichts anderes getan als sich den Kopf darüber zerbrochen, wer dieser Mann sein könnte.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie, »ich weiß es nicht.« Sie blinzelte.
    Und Süden ging aus der Küche. Iris tupfte sich die Augen ab. Drückte die halbgerauchte Zigarette aus. Und weinte.
    Süden setzte sich an den Ecktisch unter dem Fernseher, wo gewöhnlich die Bierfahrer Toni und Rudi saßen, und schloss die Augen. Er musste jetzt sehr lange schweigend ins Dunkel sehen.

23
    Z ehn vor acht stand er in der Einfahrt, den Zettel mit der Untersuchungsnummer in der rechten Faust zerknüllt.
    Er war zu Fuß gekommen. In der Nacht hatte er drei Stunden geschlafen. Um zwanzig nach sechs wachte er auf. Er duschte mit eiskaltem Wasser. Zog sich an. Und verließ die Pension.
    Bevor er die Bahnhofshalle betrat, wo er einen Kaffee trinken wollte, begriff er, dass er nicht hier war, um Kaffee zu trinken.
    Er war hier, weil ihn eine Unruhe aus dem Zimmer getrieben hatte, in keine bestimmte Richtung, nur raus. Durch den dunklen Morgen. Der Bahnhof war ein willkürliches Ziel. Es hätte jeder andere Ort sein können, an dem sich Menschen aufhielten.
    Das war ein irrer Gedanke. Ich will niemand sehen! Ich will doch jetzt mit niemand reden! Und es wär gesünder für jeden, mich nicht anzusprechen.
    Niklas Schilff war unfähig, auf die letzte Stufe der Treppe vor dem Südeingang zu steigen. Leute liefen an ihm vorbei. Aus der Halle tönte die Stimme der Ansagerin. Die Verkaufsstände hatten geöffnet. Er sah einen Mann, der von einem Pappteller eine Bratwurst aß, und einen anderen, der ein Bier trank und vor sich hin redete. Am gläsernen Kiosk prangten die bunten Zeitschriften, hunderte von Blättern. Schilff starrte minutenlang hin. Als würde er etwas Ungewöhnliches sehen. Das farbenstrahlende Gesicht der realen Welt. Und er wäre nicht real.
    Er wäre nur auf der Durchreise von einem Hirngespinst zum nächsten. Niemand würde ihn wahrnehmen. Nicht einmal er sich selbst.
    Es war unmöglich, dass er positiv war! Ich hab niemand gefickt, den ich nicht kenn. Schwachsinn. Wieso bin ich letzte Woche zu diesem Test gegangen? Der Arzt hat mich gefragt, ob ich Bedenken hab. Und ich sagte: Keine. Und er sagte: Gut. Er sagte: Gut.
    Je länger Schilff auf der Treppe stand, desto unruhiger wurde er. Und er hatte geglaubt, er wolle nur einen Kaffee trinken und dann gemächlich zur Lindwurmstraße schlendern.
    Schlendern! Bin ich ein Schlenderer? Strolling down the road strolling through the night strolling in the city.
    »Ich schlender doch nicht!«, sagte er laut.
    »Sehr richtig«, sagte jemand neben ihm.
    Schilff wandte den Kopf. Der Mann neben ihm trug einen schmutzigen Mantel. Sein Gesicht war von Alkohol und Wunden entstellt.
    »Dich kenn ich!«, krächzte der Mann. »Dich kenn ich, du Sau!«
    Schilff erkannte ihn nicht. Ich muss hier weg, ich kotz gleich.
    »Du bist der Schläger!«, stieß der Stadtstreicher hervor und riss seine roten Augen weit auf. »Ich hab dich angezeigt, du Sau!«
    Schilff war schon an der Ampel. Musste stehen bleiben. Drehte sich noch einmal um.
    »Hitler kommt wieder, und du kommst ins Gas!«, brüllte der Mann. Eine Minute später hatte Schilff ihn vergessen.
    Ob die Haustür offen war, hatte er noch nicht ausprobiert. Er ging in der Einfahrt auf und ab. Er fragte sich, warum er hier war. Wieso er diesen Test gemacht hatte. Diesen ersten Test.
    Diesen sinnlosen Test. Ich hab kein Virus. Von wem denn, von Alice? Wie lang war das her, seit er das letzte Mal mit ihr geschlafen hatte? Fünf Monate? Die ist intelligent, die kennt sich aus, die fickt nicht mit jedem. Sie hat mit mir gefickt. Oder nicht? Wir sind getrennt. Wir haben uns getroffen. Wir haben geredet. Wir haben Wein getrunken. Am Schluss hat Silvio uns Grappa ausgegeben. Und dann sind wir zu ihr.

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