Verzeihen
Hiersein einen Sinn. Und ich schreibe immer noch Tagebuch, das kann niemand lesen, weil ich nur in meinem Kopf schreibe. Ich schreibe dir zu Ehren. Ich kann sehen, was ich schreibe.
Manchmal muss ich eine Pause machen, dann wärme ich mich unter dem Mantel. Es ist so kalt hier. Es wird immer kälter. Das warme Wasser wärmt mich nicht. Und es ist so anstrengend, aus der Wanne zu kriechen.
In der Kälte hier werd ich nicht so schnell verwesen. Ich seh noch eine Weile aus wie ich, und wenn ich Glück hab, kommt irgendein Handwerker und findet mich und erschrickt nicht gleich zu Tode. Kennst du Max, den Maurer? Max, der Maurer, ist arbeitslos, und wenn ihm nichts Besseres einfällt, geht er zum Blutspenden, er bekommt dort zu essen und zu trinken, er sitzt im Warmen und er redet mit Leuten.
Wie mit uns, mit Iris und mir. Er hat uns gleich gefragt, ob wir auch wirklich zwölf Stunden lang keinen Alkohol getrunken haben und ob wir nüchtern sind. Er lachte, weil er gedacht hat, das ist ein echter Witz. Wir haben auch gelacht. Er sagte, er nimmt den Job ernst, er meinte das Blutspenden. Also trank er zwölf Stunden vorher nichts, er sagt, er steht dann in der Kneipe und bestellt alkoholfreies Bier, alle machen sich lustig über ihn. Er bleibt eisern. Das hat er uns alles erzählt beim Warten auf die Ärztin. Außerdem darf man keine großen körperlichen Anstrengungen unternehmen an dem Tag. Was für Max, den Maurer, kein Problem war, da kommt einem die Arbeitslosigkeit grad recht, sagte er.
Die Ärztin war freundlich, sie fragte uns alles Mögliche, und wir mussten ein paar Fragebögen ausfüllen. Hatten Sie in den vergangenen zwölf Monaten Geschlechtsverkehr mit jemand, den Sie nicht so genau kennen? Nein, hab ich gesagt. Ben kenne ich doch. Ich hab also die Wahrheit gesagt und trotzdem gelogen. Ich wollte nicht, dass Iris das mit Ben erfährt. Ich wollt das nicht. Und jetzt weiß ich nicht mehr, warum. Wenn sie mit mir auf dem Fest gewesen wäre, hätte ich das nicht getan, das steht fest, so funktioniert Schicksal.
Jetzt tue ich schon wieder so, als würdest du mich hören. Ich glaub nicht an Gott, ich glaub nicht dran, dass wir sterben und dann kommt jemand und führt uns aus der Grube in ein schönes Land. Oder setzt unsere Asche wieder zusammen wie ein Puzzle. Ich hab aufgehört so etwas zu glauben. Wir sterben und sind verschwunden. Für alle Ewigkeit. Und das ist richtig so. Vorher kann man noch was Gutes tun, zum Beispiel Blut spenden.
Iris sagte, das machen wir, das hat Sinn. Hat es auch gehabt. Ich weiß jetzt, dass ich verseucht bin. Und ein Verrückter hat mich entführt, und ich werde sterben. Immerhin hatte ich die gute Absicht, den Plasmavorrat in Deutschland zu erhöhen. Iris hat es geschafft. Vielleicht stirbt jetzt einer dank ihres Blutes nicht.
Dr. Forster sagt: Das größte Infektionsrisiko ist der Glaube an einen treuen Partner. Den treuen Partner lass ich weg, dann bleibt der Glaube über. Der Glaube ist das größte Infektionsrisiko.
Ist heute Silvester? Dann wird gefeiert. Iris hat einen Berg Faschingszeug im Keller, das wird aufgehängt und überall verteilt, es ist bunt, und Sekt gibts um Mitternacht umsonst. Ich wünsche mir, dass sie auch ohne mich feiert. Du sollst feiern! Wenn ich tot bin, musst du auch feiern, eine trübsinnige Wirtin ist der Untergang eines jeden Lokals. Rumhängen ist Mist, zu viel trinken ist Mistjammern ist Mist, alles ist Mist außer jeden Tag in Güte leben.
Als hätte ich das jemals getan! Ich habs nicht gewusst, erst jetzt, erst hier. Die Tage werden länger. Wie gut, dass du mich nicht hören kannst, Papa, du würdest mich auslachen, du würdest denken: Was redet die da, hab ich ihr das beigebracht? Nein. Du hast mir beigebracht, wie man auf dem Schlitten liegt, damit man nicht umkippt. Du hast mir beigebracht, wie man den Hahnenfuß von der Sumpfdotterblume unterscheidet und die vielen Kleearten, und auch, wie man Kümmel pflanzt, damit er später schmeckt. Und den »Flohwalzer« und »Für Elise« hast du mir beigebracht und das »Rondo alla turka«, so leicht wie du konnte ich es leider nie spielen. Du hast mir beigebracht, beim Essen still zu sitzen und abends zu beten. Du hast mir beigebracht, wie man mit den Fingern Schattenspiele macht und wie man Fahrrad fährt. Du hast mir nicht beigebracht, was man tut, wenn man nach Hause kommt und plötzlich Frau Kunert mit einem grauen Gesicht aus dem Nebenzimmer tritt. Du hast mir nicht beigebracht, wie man
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