Verzeihen
»Der Gummi ist verrutscht, ich… ich hab aufgepasst, das hat Ariane Ihnen doch erzählt…«
Schilff fing an zu schwitzen. Übergangslos. In dem niedrigen Raum mit der parfümierten Luft wurde ihm immer heißer.
Ich muss hier raus, ich muss hier weg. Er hatte den Eindruck, sein ganzer Körper sei von einer Schweißschicht überzogen.
Und sein Gesicht. Er bekam Ohrensausen. Er musste etwas sagen!
»Was ist TCM?«, fragte er laut.
Heimgesucht von furchterregenden Erinnerungen, riss Zellner den Mund auf. Und brachte ihn nicht mehr zu. Er hatte keine Welt mehr, zu der er gehörte. Gerade noch befand er sich in seiner Wohnung in der Clemensstraße, an einem sonnigen Juninachmittag. Unten im Restaurant aßen, tranken und lachten seine Freunde. Und er lag mit seiner alten Freundin auf dem Boden auf der Wolldecke, und sie sagten sich die alten Worte.
Und gleichzeitig musste er eine simple Frage beantworten. Eine Frage, die er schon hundertmal beantwortet hatte. Wieso musste er diese Frage jetzt wieder…
»Warum hast du ihr nicht gesagt, dass du infiziert bist?«, sagte Schilff.
Er schwitzte immer stärker. Eine Glutwelle durchspülte ihn.
Sein Hals wurde trocken. Er hörte nichts mehr. In seinem Kopf dröhnte es. Er legte die Hände flach auf den Schädel. Und glaubte im ersten Moment, er habe den falschen Kopf erwischt.
Seine Glatze war eine Herdplatte auf Stufe drei. Zwischen seinen Schläfen schlugen Hämmer. Er hatte Durst, gewaltigen Durst.
»Ich bin nicht infiziert«, sagte Zellner leise. Die Veränderung, die mit seinem Gegenüber vor sich ging, nahm er undeutlich wahr. Er kehrte wieder in sein Wohnzimmer zurück. »Das ist unmöglich… ich mach Tests…«
»Was?« Schilff verstand kein Wort. »Was? Ich hab dich was gefragt, du! Ich frag dich…« Seine Beine fingen an zu zittern.
»Was? Was?« Redete der Typ? Oder war er jetzt taub?
»Ich hör nix, ich hab dich was gefragt!«
»Und… und wenn Ariane sich gar nicht bei mir angesteckt hat?« Zellner spürte den heißen Atem seines Gegenübers.
»Bei dir und bei sonst niemand!«, sagte Schilff und keuchte.
»Ich will mit ihr sprechen«, sagte Zellner. Aber er sagte es ohne Mut.
Leute kamen. Grüßten. Zogen sich in den Kabinen aus. Schlangen Tücher um ihren Körper. Bekamen von Zellners Kollegen Tee serviert. Bestimmt hatten schon wieder zehn Kundinnen für ihn angerufen.
»Ich weiß jetzt, was du für einer bist!«
Die Stimme war direkt vor seinem Gesicht. Dann sah Zellner, wie der Mann, der sich Dragomir nannte, Luft holte und kurz innehielt.
Über den Rülpser erschrak er bis ins Mark.
Er gab sich einen Ruck. Und kam hinter der Bar hervor.
»Sofort raus! Gehen Sie! Gehen Sie!«
Dann war er kurz davor sich zu entschuldigen. Jetzt würde er alles sagen, der andere. Jetzt kam alles raus. Unbewusst griff Zellner nach Schilffs Hand. Aber der Reporter hatte beide Hände wieder in den Mantel gesteckt. Er glühte. Gleichzeitig fror er. Oder bildete er sich das nur ein? Ich muss hier raus, ich muss hier weg! Er stand auf. Und verlor die Balance. Er erwischte den Barhocker und schlug mit dem Arm um sich. Niemand sprach. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Dann mit dem Ärmel. Er spuckte aus, als hätte er ein Kilo Sand im Mund. Endlich brachte er den Kopf in die Höhe. Zwei Meter weiter war die Treppe.
Langsam, die Schultern hochgezogen, den Kopf im Nacken, drehte er sich um die eigene Achse. Und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Zellner. Wortlos. In den Sekunden, in denen Schilff mit halb geöffneten Augen dastand, wäre Zellner am liebsten in Tränen ausgebrochen.
»Alles okay, Ben?«, fragte die junge Kollegin, die vorhin Frau Grüners Anruf entgegengenommen hatte. Sie rieb ihm über den Rücken.
»Ich muss telefonieren!«
Schilff stand auf der Straße. Und wankte. Stützte sich an den geparkten Autos ab. Schlotterte. Und leckte sich die rissigen Lippen. Vorne an der Kreuzung sah er ein Taxi. Er hob den Arm.
Wie ein Krüppel mit Bleiknochen schleppte er sich vorwärts.
Hinkte. Stolperte. Rang nach Luft. Das laute Klingeln einer Straßenbahn kam aus einer anderen Galaxie.
27
I ch wollte dir noch etwas erzählen. Ich bin so müde. Ich glaube, ich werde dir nie wieder etwas erzählen, das musst du mir nachsehen. Auch werde ich dich nicht treffen, das ist alles nur Aberglauben. Du bist für immer gegangen am zweiundzwanzigsten April vor so vielen Jahren und das war dann eben unsere Zeit. Ich begreife das jetzt. So hat mein
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