Der glückliche Tod
I
Es war zehn Uhr morgens, und Patrice Mersault ging mit gleichmäßigen Schritten auf Zagreus' Villa zu. Um diese Zeit war die Wärterin auf dem Markt und niemand im Hause. Es war April, ein schöner funkelnder kalter Frühlingsmorgen mit einem reinen eisigen Himmel, in dem eine große Sonne stand, strahlend, aber ohne Wärme. Zwischen den Pinien an den Hängen in der Nähe der Villa rann ein reines Licht an den Stämmen entlang. Die Straße lag verlassen da. Sie stieg ein wenig an. Mersault trug einen Koffer, und in der Glorie dieser Erdenfrühe ging er dahin, begleitet von dem harten Geräusch seiner Schritte auf der kalten Straße und dem taktmäßig wiederkehrenden Knarren des Koffergriffs.
Kurz vor der Villa mündete die Straße in einen kleinen Platz mit Bänken und Grünanlagen. Frühe rote Geranien zwischen grauer Aloe, das Blau des Himmels, das Weiß der Umfassungsmauern — das alles wirkte so frisch und so jung, daß Mersault einen Moment den Schritt verhielt, bevor er den Weg einschlug, der von dem Platz zu Zagreus' Villa hinunterführte. Vor der Schwelle des Hauses blieb er stehen und zog seine Handschuhe an. Er öffnete die Tür, die der Krüppel stets unverschlossen hielt, und machte sie ganz natürlich hinter sich wieder zu. Er ging durch den Flur bis zur dritten Tür links, klopfte an und trat ein. Zagreus war selbstverständlich da, er saß, mit einem Plaid über den Stümpfen seiner Beine, in einem Sessel dicht am Kamin, genau an dem Platz, den Mersault zwei Tage zuvor eingenommen hatte. Er las, und das Buch lag auf seiner Decke, während er Mersault, der neben der wieder geschlossenen Tür stehengeblieben war, aus seinen runden Augen ansah, in denen keinerlei Verwunderung lag. Die Fenstervorhänge waren zugezogen, und auf dem Boden, auf den Möbeln und an den Kanten der Gegenstände spielten Sonnenflecke. Hinter den Fensterscheiben strahlte der Morgen auf die vergoldete, kalte Erde herab. Freude, eine große eisige Heiterkeit, schrille, heisere Vogelschreie, die Flut von unbarmherzigem Licht verliehen der Vormittagsstunde einen Anschein von Unschuld und Wahrheit. Mersault war stehengeblieben, an der Kehle und an den Ohren von der erstickenden Hitze in dem Zimmer gepackt. Trotz der veränderten Witterung hatte Zagreus ein mächtiges Feuer entfacht. Und Mersault spürte, wie ihm das Blut in die Schläfen stieg und in den Rändern seiner Ohren pochte. Immer noch schweigend folgte der andere ihm mit dem Blick. Patrice ging zu der Truhe auf der anderen Seite des Kamins und stellte seinen Koffer auf den Tisch. Dort angekommen, verspürte er eine kaum merkliche Schwäche in den Fußgelenken. Er hielt inne und steckte sich eine Zigarette in den Mund, die er wegen seiner behandschuhten Hände ungeschickt anzündete. Hinter ihm ließ sich ein schwaches Geräusch vernehmen. Mit der Zigarette im Mund drehte er sich um. Zagreus schaute ihn noch immer an, hatte jedoch sein Buch zugeklappt. Während Mersault die Hitze fast schmerzhaft an seine Knie dringen fühlte, las er verkehrt herum den Titel: «Kunst der Weltklugheit» von Baltasar Graciän. Ohne zu zögern, beugte er sich zu der Truhe hinunter und hob den Deckel hoch. Schwarz auf weiß glänzte dort der Revolver an allen seinen Rundungen wie eine gepflegte Katze. Er lag noch immer auf Zagreus' Brief. Mersault nahm diesen in die linke Hand und den Revolver in die rechte. Nach kurzem Zaudern schob er die Waffe unter seinen linken Arm und öffnete das Kuvert. Es enthielt ein einziges großformatiges Blatt Papier, das mit einigen wenigen Zeilen in Zagreus' großer, eckiger Schrift bedeckt war:
«Ich lösche nur einen halben Menschen aus. Man halte mir das zugute. In meiner kleinen Truhe wird man weit mehr finden, als nötig ist, um diejenigen schadloszuhalten, die mir bislang gedient haben. Was das übrige betrifft, so habe ich den Wunsch, daß es für die Verbesserung des Loses der zum Tode Verurteilten verwendet wird. Doch bin ich mir bewußt, daß das viel verlangt ist.»
Mit unbewegtem Gesicht faltete Mersault den Brief wieder zusammen, und in diesem Augenblick reizte der Rauch seiner Zigarette seine Augen, während etwas Asche auf den Umschlag fiel. Er schüttelte das Papier, legte es deutlich sichtbar auf den T isch und wendete sich Zagreus zu. Dieser schaute jetzt auf den Briefumschlag, und seine kurzen kräftigen Hände hielten weiter das Buch umschlossen. Mersault bückte sich, drehte den Schlüssel der Kassette, entnahm ihr
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