Verzweifelte Jahre
Ungarn sein ?« , fragte ich. Claudia sah mich an. »Weißt du noch? Damals, die Geschichte mit Italien?« »Was für eine Geschichte ?« , fragte Jürgen. Claudia erzählte es ihm. Wie der Koch mit Natascha eine Woche nach Italien fahren wollte und ich ihr deswegen einen eigenen Pass machen hab lassen, weil sie vorher bei mir eingetragen war. Wie ich ihn nach ein paar Tagen in Wien getroffen habe, ohne Natascha. Wie er mir erklärt hat, dass er es sich anders überlegt hat und statt nach Italien lieber nach Ungarn gefahren ist und dass das Kind noch immer dort ist. Allein. Bei fremden Leuten. Irgendwo gleich nach Sopron. »Die Mama hat geglaubt, sie wird narrisch. Das war schon verrückt .« »Der Koch hat sich immer schon mit komischen Leuten abgegeben«, sagte ich. »Aus der untersten Schublade bis zum Generaldirektor. Das waren alles seine Freunde .« Mein Gefühl wurde immer dichter. Der Koch steckte da irgendwie mit drinnen. »Und ?« , fragte Jürgen. »Du kennst doch den Koch. Der hat immer irgendwelche Wickel mit irgendwem. Spielen, Geld ausborgen, nicht zurückgeben. Da war immer wer sauer. Es kann doch sein,... « Auf einmal passte alles zusammen. »... dass wer ein Druckmittel gebraucht hat. Oder?« »Aber wie soll so einer gewusst haben, dass sie an dem Tag um sieben aus dem Haus geht ?« , überlegte Sabina. »Na ja. Der Koch hat doch die Natascha in sämtliche Lokale mitgenommen. Vielleicht hat er’s so gemacht wie mit mir. Sie sitzen lassen und mit den anderen gesoffen .« »Und die Natascha redet ja gern«, sagte Sabina. »Worüber unterhält man sich mit einer Zehnjährigen? Über die Schule. Warum soll sie da nichts von den Förderstunden erzählt haben ?« Sabina stand auf und holte einen Schreibblock aus Nataschas Zimmer. »Wir müssen uns Notizen machen«, sagte sie, »für die Polizei .« Die zweite Nacht begann.
*
Vierzig Stunden ohne Schlaf. Jürgen hatte Zeitungen gebracht, die Buchstaben tanzten vor meinen Augen. Ich legte mich auf die Couch und machte die Augen zu. Es war noch beängstigender im Dunkeln.
Der Fernseher flimmerte durch meine Lider hindurch. Rindfleisch zum Aktionspreis. Ich musste nachdenken, was das heißt. Ein Waschmittel, wäscht nicht nur sauber, sondern auch rein. Ich verstand nicht. Ich lebte nicht mehr in dieser Welt. Bankzinsen. Milchreis. Lebensversicherung. Wozu.
»Mama, die Nachrichten.« Claudia stupste mich. Ich musste ein paar Minuten eingenickt sein. Es war die erste Meldung. Großfahndung. Die Suchhunde am Rennbahnweg. Polizeihubschrauber über der Siedlung. Natascha Kampusch. Meine Tochter sah mich aus dem Fernseher an. Sie verschwamm mir mit den Tränen. Sabina umarmte mich und schluchzte. Claudia schlug die Hände vors Gesicht. Das Telefon läutete. Sabina saß näher beim Apparat, sie hob ab. Bekannte wollten wissen, ob wir was brauchten. Ob sie helfen könnten. Sabina schüttelte nur den Kopf, sie brachte kaum ein Wort heraus. Sie reichte mir den Hörer. Ich sagte auch nicht viel mehr. Es läutete immer wieder. Jedes Mal schoss ein Blitz durch meinen Körper. »Hallo«, sagte ich, aber man hörte mich kaum. Ein Freund dürfte dieselben Gedanken gehabt haben wie wir. »Weißt du, dass der Koch in der Trafik hunderttausend Schilling Schulden hat ?« , fragte er. »Sag das der Polizei .« Sabina schrieb mit. Notierte jede Winzigkeit. Gegen Mitternacht war der Block fast voll. Die Mädchen und die Kinder legten sich ein paar Stunden hin. Ich war allein im Wohnzimmer. Die Welt war so klein geworden um mich. Reduziert auf eine Couch, einen Fernseher, einen Aschenbecher, ein Radio, eine Kaffeemaschine. Ich war gefangen auf ein paar Quadratmetern Einsamkeit. Sie waren Käfig und Zuflucht zugleich. Ich fiel in eine Art Dämmerzustand. Zwischen Fürchten und Hoffen.
Der Morgen graute. Der Fernseher lief. Es hatte sich nichts geändert. Die Zeit verging. Die Mädchen standen auf. Die Kinder hatten Hunger. Die Frühnachrichten brachten uns Natascha wieder ins Wohnzimmer. Es hatte etwas sonderbar Tröstliches. Man suchte nach ihr. Man hatte sie nicht vergessen.
Günter ging die Plakate aufhängen. Vermisst, stand groß drauf. Und Natascha Kampusch. Ein Foto von ihr. Bitte um Hinweise. Die Nummer des Sicherheitsbüros.
Claudia blieb beim Telefon. Sie hatte noch Schmerzen von der Meniskus-Operation. Sie notierte alles, was nur irgendwie ein Anhaltspunkt sein könnte. Unterstrich einzelne Wörter. Ringelte Namen ein. Setzte Querverbindungen. Markierte sie mit
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